Wiener Zeitung: Leitartikel von Walter Hämmerle: "Fatale Erwartungen"
Ausgabe vom 24. September 2010
Wien (OTS) - Warum eigentlich sind so viele Bürger in den wohlhabenden Staaten der westlichen Welt so unglaublich unzufrieden mit den bestehenden Zuständen? Und warum bloß sinkt die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung von notwendigen, aber schmerzhaften Reformen, wenn der Wohlstand hoch ist?
Belege gefällig? 83 Prozent der Österreicher sagen laut einer aktuellen Imas-Umfrage, dass in unserem Staate vieles faul sei. Eine andere Umfrage besagt, dass beängstigende 4 Prozent der Bürger mit den herrschenden demokratischen Zuständen sehr zufrieden sind; 46 Prozent sind dies eher beziehungsweise ganz und gar nicht. Die Zahlen beziehen sich zwar auf Österreich, der grundsätzliche Befund gilt jedoch für die gesamte westliche Welt. Muss man sich also über den Zulauf zu populistischen Protestparteien nicht wundern.
Diese grundsätzliche, ja geradezu fatalistische Skepsis bei immer mehr Bürgern greift unter gesellschaftlichen Bedingungen um sich, die in punkto persönlicher und sozialer Sicherheit, technologischen und kulturellen Errungenschaften sowie individueller Lebensqualität historisch einen einmaligen Höhepunkt darstellen.
Hinter diesen - auf den ersten Blick widersprüchlichen -Entwicklungen steckt der Fluch der ständig steigenden Erwartungshaltungen. Der US-Soziologe James Davies hat das bereits in den 60er Jahren in seiner "Theory of rising expectations" formuliert. Das daraus abgeleitete politische Axiom lautet: An einem einmal erreichten Niveau darf nicht nur niemals wieder gerüttelt, es muss auch noch ständig gesteigert werden. Kommt die Politik dieser Erwartungshaltung nicht nach, verliert sie zwangsläufig die Unterstützung.
Eine Lösung für das daraus resultierende politische Dilemma ist bis heute nicht gefunden (was allerdings angesichts der erbärmlichen inhaltlichen politischen Innovationskraft seit den 70er Jahren nicht wirklich überrascht). Ergibt sich die etablierte Politik in ihr Schicksal, womöglich noch mit dem Hinweis, dass "das unsere Leut' halt einfach nicht wollen", dann untergräbt sie damit - bewusst und willentlich - das Fundament einer liberalen Demokratie, auf dem wir doch eigentlich alle stehen wollen. Zumindest wird das von allen Beteiligten bei jeder sich bietenden Gelegenheit treuherzig behauptet.
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