"Die Presse" Leitartikel: Sicherheit und Freiheit werden neu gewichtet, von Michael Prüller
Ausgabe vom 26.05.2010
Wien (OTS) - Die britische Regierung will weg vom
Sicherheitsfimmel der vergangenen Jahre. Das kommt keinen Tag zu früh.
Dass die neue britische Regierung darangeht, Bürgerrechte wieder auszubauen und staatliche Überwachung zurückzuschrauben, sind "good news". Als David Cameron oder Nick Clegg noch kleine Kinder waren, gab es den Spruch, in Deutschland oder Österreich sei alles verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist; im liberalen England sei hingegen alles erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist. Diesen Ruf hat Großbritannien längst eingebüßt (wenn er nicht ohnehin nur auf der Erlaubnis beruht hat, den Rasen zu betreten). Tatsächlich hat das Land heute ein rigoroses Überwachungsregime. Und nicht nur das:
Großbritannien hat in den vergangenen Jahren wie kaum eine andere Nation der freien Welt, den Staat zur Supernanny seiner Bürger gemacht und eine Kultur des Generalverdachts gegen jeden gefördert.
Die Briten sehen sich heute nicht nur mehr als vier Millionen Überwachungskameras ausgesetzt. Das neue Visasystem sieht so viele Schikanen vor, auch für Kurzaufenthalte, dass zahlreiche Künstler und Wissenschaftler von Übersee gar nicht mehr einreisen wollen, wie der iranische Regisseur Abbas Kiarostami, dem zweimal innerhalb von zwei Tagen die Fingerabdrücke abgenommen wurden, damit er zu seiner Inszenierung von "Così fan tutte" in London fahren durfte. Und der chinesische Künstler Huang Xu hat gleich gar kein Visum für die Eröffnung einer Ausstellung seiner Werke in London erhalten. Bei Behörden gibt es kein Auskunftsrecht, und die Ermächtigungen für Abhörungen, Datenspeicherung und Lauschangriff gehen weit.
Nun steht es Nichtbetroffenen vielleicht schlecht an, einem Land, das jahrzehntelang IRA-Terror und dann die Bombenanschläge in der U-Bahn 2005 erlebt hat und das große pakistanische und arabische Parallelgesellschaften beherbergt, erklären zu wollen, wie es das Sicherheitsbedürfnis der Bürger zu befriedigen hat, und wo da genau die Grenzen zum Big Brother liegen. Aber der britische Überwachungsfimmel geht weit über die Gefahren des internationalen Terrorismus hinaus.
Mitunter hat das schon groteske Züge. Etwa, wenn eine Kampagne der Regierung, Jugendlichen das Trinken von Alkohol an öffentlichen Plätzen zu verleiden, von der Polizei als Freibrief aufgefasst wird. Da kam es schon vor, dass Leute verhaftet wurden, die eine Kiste Bier über den Stadtplatz getragen haben - obwohl es für Verhaftungen hierbei gar keine rechtliche Grundlage gibt.
Die geradezu obsessive Einmischung in Gesundheitsdingen, bei der es nicht nur gegen das Rauchen geht, sondern den Eltern auch erklärt wird, welche Jausenpakete sie den Kindern mitgeben sollen, geht nahtlos über in die befremdliche Schutzglocke, die über die Kinder ausgebreitet wird. Jeder ab 16, der auch nur am Rande mit fremden Kindern zu tun hat - der Nachhilfelehrer, die Tochter der Tagesmutter, die freiwillige Helferin beim Schulfest -, braucht heute (kein Witz!) ein polizeiliches Unbedenklichkeitszeugnis. Doch auf der anderen Seite müssen sich Kinder ebenso in den argusäugigen Nanny-Staat einfügen, als ob sie Erwachsene wären. Vor wenigen Tagen ging ein Strafprozess gegen zwei Zehnjährige im Old Bailey zu Ende, die wegen versuchter Vergewaltigung einer Achtjährigen vor Gericht standen und verurteilt wurden, obwohl das Mädchen seine belastenden Aussagen zurückgezogen hat. Und jedes Jahr müssen tausende Lehrer stundenlang Formulare ausfüllen und Sozialarbeiter zu Verhören begleiten, weil das Gesetz sie dazu verpflichtet, jeden "rassistischen Vorfall" an Kindergärten und Schulen den Behörden zu melden. Etwa, wenn einer den anderen "Schokolade" nennt.
Das Ganze ist nicht nur eine lokale Besonderheit, die mit der Terrorgefahr zu tun hat. New Labour, als Antwort auf Margaret Thatchers ungeliebt gewordene Doktrin vom Staat als dem eigentlichen Problem gewählt, war auf den leisesten Zuruf hin stets bereit, die Potenz des benevolenten Staates unter Beweis zu stellen. Im großstädtischen England, das zu den gewalttätigsten Regionen Europas gehört, ist das auf große Zustimmung gestoßen und war daher auch bisher ein wahltaktischer No-Brainer. (Es hat nur nicht viel genützt:
London gilt heute immer noch als gefährlicher als jede US-Stadt außer Detroit.)
Nun wurde ja viel darüber geschrieben, dass David Cameron eher der Erbe Blairs als Thatchers ist, und daran wird vieles stimmen. Doch zumindest die geäußerten Absichten der neuen Regierung in der Sicherheitspolitik sind eine Abkehr vom Bisherigen. Keinen Tag zu früh, denn der Sicherheitswahnsinn hat begonnen, in Europa Kreise zu ziehen - und die Bürgerrechte brauchen einen starken Champion.
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