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"Kleine Zeitung" Kommentar: "Der Vulkan hat unsere Achillesferse getroffen" (Von Ernst Sittinger)
Ausgabe vom 20.04.2010
Graz (OTS) - Eine Postkartenattraktion gilt plötzlich als
Sinnbild alles Bösen: Der Vulkan mit dem unaussprechlichen Namen ist
zum Hauptfeind der Zivilisation geworden. Hunderttausende Menschen
sitzen noch immer in Abflughallen fest, Dutzende Airlines sind von
der Pleite bedroht, Exportgüter können nicht ausgeliefert werden,
Produktionsabläufe stocken. Der Flugverband IATA fühlt sich an den
Terrorwahnsinn von 9/11 erinnert - ein gewagter Vergleich angesichts
der damals 3.000 Toten.
Trotzdem werfen die dunklen Aschewolken aus Island ein helles
Schlaglicht auf die Verletzlichkeit unseres Alltags. Ein rauchender
Vulkanschlot zwingt hoch entwickelte Volkswirtschaften im globalen
Dorf über Nacht in die Knie. Die Tage ohne Luftverkehr kosten
Milliarden. Normalerweise stehen täglich 29.000 Flüge in Europa auf
dem Programm.
Diese Zahl verrät mehr über den Zustand unserer Welt, als uns in
einem ruhigen - möglicherweise erzwungenen - Moment des Innehaltens
lieb sein kann. Was mit dem Schlachtruf "Freie Fahrt für freie
Bürger" begann, ist heute längst der absolute Anspruch auf
jederzeitige, geradezu manisch gelebte Mobilität. Das gilt nicht nur
für Jet-Setter, die zum Taxitarif auf einen Kaffee nach Paris oder
übers Wochenende nach New York fliegen. Es gilt auch für die, die
Urlaub auf Balkonien machen, dabei aber Badeschlapfen aus China
tragen und Obst aus Brasilien genießen.
Der freie Waren- und Personenverkehr ist das fragile Fundament
unseres Wohlstands: Sämtliche Verkehrsadern zu Wasser, zu Lande und
in der Luft, sämtliche Kommunikationskanäle über Äther, Satellit und
Glasfaser haben rund um die Uhr bedingungslos und störungsfrei zur
Verfügung zu stehen. Die Beherrschbarkeit dieses Problems ist eine
Illusion, auf deren gelegentliche (Zer-)Störung durch störrische
Naturgewalten wir empfindlich reagieren. Schon bringen die Airlines
ihre Juristen in Stellung, um Schadenersatz zu fordern: Da man sich
vom Vulkan nichts holen kann, sollen die Behörden bluten, die den
Luftraum gesperrt haben. Hätte es umgekehrt durch die Asche des Bösen
einen Zwischenfall gegeben, hätte man sicher ebenfalls die Behörden
belangt.
Tatsächlich wäre es besser, im dunklen Licht des Vulkans die Fragen
nach intakten regionalen Strukturen, kleinräumiger
Wirtschaftsvernetzung und den wahren Kosten des globalen Verkehrs zu
diskutieren. Denn der Imperativ allumfassender Mobilität ist nicht
absolut garantiert, sondern vorläufig geduldet - vom Planeten, auf
dessen Wohlwollen wir angewiesen sind.****
Rückfragehinweis:
Kleine Zeitung, Redaktionssekretariat, Tel.: 0316/875-4032, 4033, 4035, 4047, mailto:redaktion@kleinezeitung.at, http://www.kleinezeitung.at
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