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"Die Presse" Leitartikel: Das gefährliche Spiel mit dem Vertrauen, von Oliver Grimm

Ausgabe vom 30.03.2010

Wien (OTS) - Europas Reaktion auf die griechische Krise zeigt, wie schwer man verlorene Glaubwürdigkeit zurückgewinnt.

Vor ein paar Wochen verstarb in Edinburgh der amerikanische Rechtsprofessor Ian R. Macneil. 1988 unterrichtete er in Harvard Barack Obama und war von der Brillanz seines Studenten derart überzeugt, dass er seiner Frau sagte: "Ich denke, dass ich den ersten schwarzen Präsidenten in meiner Klasse habe."
Macneils wichtigster wissenschaftlicher Beitrag war die Idee der "Relational Contracts". Dahinter verbirgt sich folgende Überlegung:
Wenn zwei Menschen einen Vertrag schließen, ist es ihnen unmöglich, jede Eventualität zu regeln. Rechtsanwälte verdienen sich zwar goldene Nasen damit, ihren Mandanten das Gegenteil einzureden. Aber wie ein Richter einen Vertrag im Streitfall auslegt, hängt stets von den Umständen ab, unter dem er geschlossen wurde, dem Kenntnisstand der Vertragsparteien und nicht zuletzt dem impliziten Vertrauensverhältnis, auf dem diese Übereinkunft fußt. Wenn Sie ein Auto kaufen, drängen Sie nicht darauf, im Kaufvertrag festzuhalten, dass ein Auto ein mehrrädriges Fahrzeug zur Beförderung von Personen oder Gütern ist. Sie vertrauen vielmehr auf das stille Einvernehmen darüber.

Der Segen dieses Denkmodells impliziter Vertrauensbeziehungen zeigt sich auch in der Politik - zumindest in der marktwirtschaftlich-demokratisch fundierten, die wir in Europa betreiben. Ohne Vertrauen geht nichts.
Die griechische Schuldenkrise ruft uns das deutlich in Erinnerung. Normalerweise sollten die Käufer von Staatsanleihen davon ausgehen dürfen, dass die Budgetstatistiken der Regierungen, deren Bonds sie kaufen, mehr oder weniger korrekt sind. Griechische Regierungen beider Lager haben aber über Jahrzehnte hinweg die Bilanzen ihres Staates so unverschämt frisiert, dass es den Investoren Ende vergangenen Jahres reichte: Athen musste die Platzierung einer milliardenschweren Anleihe mangels Käuferinteresse abblasen, alle drei großen Rating-Agenturen stufen die Bonität Griechenlands herunter, und Ministerpräsident George Papandreou wandte sich mit einem Live-Einstieg im Fernsehen an seine Bürger und bat sie um Unterstützung dabei, ihr Land davor zu bewahren, "über die Klippe zu stürzen." Der Mechanismus zur Unterstützung Griechenlands, auf den sich Europas Staats- und Regierungschefs am vergangenen Donnerstag einigten, kann den tiefen Vertrauensverlust an den Finanzmärkten kaum zerstreuen. Am Montag platzierte die griechische Staatsschuldenagentur zwar problemlos eine siebenjährige Anleihe über fünf Milliarden Euro an den Märkten.
Als Zeichen neuen Vertrauens in Griechenland sollte man das aber nicht werten. Denn nicht nur in Zeiten niedrigster Zinssätze gieren die Banken nach jedem Papier, das höhere Renditen verspricht. Und der siebenjährige Athener Bond wirft derzeit rund sechs Prozent pro Jahr ab - falls die Marktbedingungen stabil bleiben, wohlgemerkt. Und selbst dann ist das laut Analysten umgelegt auf die am 11. März begebene zehnjährige Anleihe derselbe Preis, den Griechenland schon bisher für seine mangelnde fiskalische Vertrauenswürdigkeit bezahlen muss.

Mit anderen Worten: Die Märkte scheren sich einen feuchten Kehricht um die salbungsvollen Beschwörungen der europäischen Solidarität, die vom Gipfeltreffen erschallten.
Das tut auch kaum Wunder. Denn sogar jetzt noch, im Angesicht der heranrollenden bleischweren Schuldenlast, die erst getilgt sein wird, wenn der letzte Teilnehmer am vergangenen Brüsseler Gipfel das Zeitliche gesegnet hat, hackt das politische Establishment seine eigene Glaubwürdigkeit in kleine Stückchen. Was soll man zum Beispiel von einem Bundeskanzler halten, der am 3. März im Interview mit der "Presse" erklärt, er "möchte nicht, dass der Bürger den Eindruck hat, wir bereiten eine Mineralölsteuererhöhung, CO2-Steuern und noch sieben Steuern vor" - und schon fünf Tage später Steuererhöhungen im Ausmaß von 1,7 Milliarden Euro vorstellt? Und wie glaubwürdig ist ein Finanzminister, der noch am 16. März in Brüssel sagt, er erwarte, dass die Europäische Kommission nichts an Österreichs Programm zur Budgetsanierung auszusetzen habe - und tags darauf von ebendieser Kommission dafür gerügt wird, mit viel zu optimistischen Zahlen für das Wirtschaftswachstum zu rechnen und für die Budgetsanierung ab 2011 "bislang kaum konkrete Maßnahmen genannt" zu haben? Glaubwürdigkeit ist eine knappe Währung - vor allem in Zeiten der Krise. Oder, volkstümlicher formuliert: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht / Auch wenn er dann die Wahrheit spricht.

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