Wiener Zeitung: Unterbergers Tagebuch: "Vernunft und Gerechtigkeit"
Ausgabe vom 11. Juli 2009
Wien (OTS) - Viele hätten sich vom Papst in seiner Enzyklika deutlichere Worte gewünscht. In diese oder jene Richtung. Er hat jedoch nur eher selten Partei ergriffen. Da hat die Kirche eine bittere Lektion gelernt, seit sie etwa einst an der Seite fast aller Experten der Zeit astronomische Wahrheiten (=Töchter der Zeit) verfochten hat, die leider falsch waren.
Dennoch versucht die katholische Linksaußen-Fraktion sofort, aus dem Text ein Linksüberholpapier zu machen. Was ihnen wieder einmal viele abnehmen, liest doch kaum jemand den Originaltext.
Der fordert nämlich ganz im Gegenteil die persönliche Verantwortung ein. Er ist eher für Marktwirtschaft und Globalisierung und geißelt die Gefahren der staatlichen Sozialleistungen, die zur Entsolidarisierung führen. Dennoch sind in zwei Punkten kritische Fragezeichen zu setzen.
Der Papst betont mehrfach zu Recht Vernunft und Gerechtigkeit. Die Frage ist nur, was diese Begriffe bedeuten. Vernunft heißt im Sinne Karl Poppers: Aus Fehlern lernen. Das gelingt in einem Wettstreit der Systeme am besten. Unter der vom Papst erträumten einheitlichen Weltautorität wäre das hingegen nur sehr eingeschränkt möglich.
Auch der starke Akzent der Enzyklika auf Entwicklungshilfe ist kritisch zu hinterfragen. Denn gerade hier findet die Vernunft viele empirische Beweise: Afrika befindet sich in einem jämmerlichen Zustand, obwohl es am meisten Hilfe bezieht. Die Asiaten - in den 70er Jahren ärmer als Afrika und Lateinamerika! - haben hingegen riesige Fortschritte erzielt. Fast ohne Entwicklungshilfe, aber mit Kapitalismus, Deregulierung, Handel und Kampf gegen Korruption. Was, liebe Linkskatholiken, lehrt uns das? Oder sind die Eigeninteressen der vielen kirchlichen Entwicklungshelfer stärker als die Vernunft? Gut gemeint endet oft nicht gut.
Noch spannender ist das Thema "Gerechtigkeit". Meint die Kirche damit die verbreitete linkspopulistische Interpretation: Jedem dasselbe? Oder findet sich nicht schon in der Bibel die wirtschaftsliberale Sicht: Jedem nach seinen Leistungen? Dafür spricht etwa das starke Gleichnis von den Talenten, in dem der kühne (wohl auch glückliche) Investor belohnt wird. Oder der Thessalonicher-Brief des Paulus (dessen Echtheit prompt von linken Theologen bezweifelt wird): Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Der Papst lässt die Antwort offen und betont nur die individuelle Pflicht zur Caritas.
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