"Tiroler Tageszeitung" Kommentar: "Das System der Ignoranz" (Von Mario Zenhäusern)
Ausgabe vom 25. Mai 2009
Innsbruck (OTS) - Das Urteil von Richter Andreas Mair im Fall Luca ist bemerkenswert. In erster Linie deshalb, weil zum ersten Mal in Österreich die Jugendwohlfahrt auf der Anklagebank saß - und verurteilt wurde. Die nicht rechtskräftige und bedingte Geldstrafe für die Sozialarbeiterin der Bezirkshauptmannschaft Schwaz hängt ab sofort wie ein Damoklesschwert über allen Jugendwohlfahrts-Entscheidungen in diesem Land. Aber mit der Verurteilung der Beamtin kann das Verfahren rund um Lucas Tod nicht abgeschlossen sein. Darf es nicht abgeschlossen sein! Vorangegangen ist den Entscheidungen der Frau nämlich eine lange Kette von fatalen Fehleinschätzungen, Missinterpretationen und vor allem sträflicher Ignoranz. Wo bleibt die Verantwortung all jener Experten, die von Lucas unglaublichem Martyrium gewusst, aber nichts unternommen haben? Warum stehen jene Ärzte und Pflegerinnen, die seine unsäglichen Schmerzen erahnen mussten, aber geschwiegen haben, nicht vor Gericht? Warum nicht jener Mediziner, der die Verletzungen des Kleinkinds zwar eindeutig als von Misshandlung herrührend identifizierte, aber trotzdem nichts unternahm? Warum nicht jene Mitarbeiterinnen der Jugendwohlfahrt, die vom Misshandlungsverdacht informiert wurden, aber untätig blieben? Luca musste sterben, weil niemand Verantwortung übernommen hat. Weil niemand genug Zivilcourage besaß und "Halt!" schrie.
Im Fall Luca wird nie von einem Erfolg zu sprechen sein. Aber wenn es gelingt, dieses System der Ignoranz zu durchbrechen, ist schon viel getan.
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