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"Die Presse" - Leitartikel: Zahmes Kätzchen im künstlichen Tiefschlaf, von Oliver Grimm
Ausgabe vom 06. Februar 2009
Wien (OTS) - Die EU-Kommission schaltet in der schwersten Krise
seit 1945 auf Leerlauf: Ein Sieg für die Feinde des Marktes.
Die Europäische Kommission ist ein seltsames Tier. Sie wird nicht von
den Völkern Europas gewählt, aber gegen den Willen der europäischen
Volksvertreter kommt sie nicht ins Amt. Sie nennt sich selbst
unabhängig von den Regierungen, doch wird ihr Präsident von ihnen
ernannt, und ihre weiteren Mitglieder auf deren Vorschlag. Sie ist
manchmal Ankläger, Richter und Vollstrecker in einem, etwa im
Wettbewerbsrecht. Sie ist viel Behörde, ein bisschen diplomatisches
Korps, eine gehörige Portion Thinktank, aber keine Regierung. Und sie
ist, trotz all dieser Widersprüche, die stärkste politische Maschine
Europas, vielleicht sogar die zweitstärkste der Welt nach dem Weißen
Haus.
Vorausgesetzt, sie will das sein. Und vorausgesetzt, man lässt sie
das sein. Im Fall der gegenwärtigen Kommission unter Führung des
Portugiesen José Manuel Barroso ist keine dieser Bedingungen erfüllt.
Sein 2004 angetretenes Team hat, mit wenigen Ausnahmen (etwa der
Niederländerin Neelie Kroes), wenig Wichtiges bewegt. Und es begibt
sich nun, neun Monate vor Auslaufen des Mandates, vorzeitig seiner
Macht.
Klar doch: Die Kommission sperrt nicht vorzeitig ihre Pforten. Die
Kommission wird bis 31. Oktober weiterhin brav Weißbücher,
Grünbücher, Diskussionspapiere und Studien vorlegen, über die
Rechtmäßigkeit von Beihilfen befinden und die eine oder andere
Firmenübernahme genehmigen oder untersagen. Sie wird nach außen hin
brummen wie eh und je, aber im Leerlauf, klinisch tot und künstlich
beatmet durch Kommissare, die sich für neue Jobs in Position bringen
wollen.
Das ist angesichts der tiefsten wirtschaftlichen Krise Europas seit
Jahrzehnten fatal. Denn erstmals seit seiner Schaffung vor sechzehn
Jahren steht der gemeinsame Binnenmarkt auf dem Spiel. Bankenkrach
und Kreditklemme dienen linken und rechten Populisten als Anlass,
nach der Abschaffung der vier Grundfreiheiten zu grölen. Dabei
gründet der Wohlstand, den radikale Gewerkschafter und nationale
Volkstümler in seltsamer Eintracht gefährdet sehen, eben auf dem
ohnehin noch nicht sehr freien Fluss von Waren, Arbeitnehmern,
Dienstleistungen sowie Kapital und Zahlungen.
Eigentlich wäre es Aufgabe der Kommission, sich mit flammendem
Schwert vor den Binnenmarkt zu stellen, wenn ihn Politiker mit der
Bevorzugung "ihrer" Unternehmen zu verzerren drohen. Doch Barroso
schwieg, als die Staats- und Regierungschefs unter Führung von
"Hyperprésident" Sarkozy im Dezember 2008 im Handstreich die Grenze,
ab der eine Beihilfe von der Kommission vorab zu genehmigen ist, von
200.000 auf 500.000 Euro hoben. Eine eiskalte Entmachtung der
Kommission in ihrem wichtigsten Feld - der Verdacht ist schwer
abzuschütteln, dass der geschmeidige Portugiese nur ja nicht anecken
wollte, um sich seine erneute Nominierung zu sichern. Denn wie
gesagt: Die Kommission muss nicht nur stark sein wollen, die
Regierungen müssen ihr diese Stärke auch zugestehen. Politiker vom
Schlag des Christdemokraten Helmut Kohl oder des Sozialisten François
Mitterrand wussten um die Wichtigkeit einer starken Kommission,
wiewohl sie knallharte Verfechter ihrer nationalen Interessen waren.
Vielmehr: weil sie knallharte Verfechter ihrer nationalen Interessen
waren. Denn um ein Sprachbild aus dem Billard zu verwenden: Über die
Brüsseler Bande ließen und lassen sich viele Reformen anstoßen, die
kein Minister selbst anrührt, dem etwas an seiner Wiederwahl liegt.
Der frühere Wettbewerbskommissar Mario Monti hat das einmal im
Gespräch mit der "Presse" so zusammengefasst: Nach jeder harten
Entscheidung in Brüssel fluchten die Minister vor den Mikrofonen
ihrer nationalen Medien - um den Kommissaren nachher heimlich dafür
zu danken, mal wieder ein heißes Eisen angefasst zu haben. Dieses
politische Karambol-Spiel hat auch Österreich gedient. So wäre wohl
kein heimischer Politiker je auf die Idee gekommen, bei öffentlichen
Ausschreibungen unterlegenen Firmen die Anfechtung der
Auftragsvergabe zu erlauben, wenn nicht die Kommission (und
letztendlich der Europäische Gerichtshof) das verfügt hätte.Dieses
Verständnis für den Nutzen der EU scheint der Generation der
Sarkozys, Merkels und Faymanns abhandengekommen zu sein. Ihr
Interesse gilt einer möglichst schwachen Kommission. Und so wird auch
die nächste ein seltsames Tier sein. Aber wieder keines mit Krallen
und Zähnen. Sondern ein zahmes Kätzchen. Schade. Das Machtzentrum
Europas bröckelt.
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