• 21.07.2008, 12:51:15
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Ein Parlament unter freiem Himmel Der isländische Parlamentarismus begann vor über 1000 Jahren

Wien (PK) - Beginnend am 7. Jänner 2008, hat die
Parlamentskorrespondenz die Parlamente der 16 Teilnehmerländer der
EURO 08 porträtiert. Wir bringen in der Folge - jeweils am Montag -
die Porträts der Parlamente der anderen europäischen Staaten von A
wie Albanien bis Z wie Zypern. Heute: Island.

Man schreibt das Jahr 930 unserer Zeitrechnung. Von der ganzen Insel
sind die freien Männer zusammengekommen, Bauern und Handwerker,
Sänger und vor allem die Goden, die Clanführer, Häuptlinge und
Friedensrichter waren. Es ist ein wahrlich mystischer Ort, an dem sie
sich treffen. Er liegt rund 50 km nördlich der heutigen Hauptstadt
Reykjavik. Es ist eine Bruchstelle, die über die ganze Insel im
Nordatlantik verläuft, von Nordosten nach Südwesten, wo die
amerikanische und die europäische Kontinentalplatte auseinander
driften. Hohe Felsmauern gibt es hier, und tiefe Spalten voll des
klarsten Wassers. Thingvellir wird man den Ort in Zukunft nennen,
denn hier trat die erste Vollversammlung (Althing) der freien Männer
Islands zusammen, sofern sie über ein Mindestvermögen verfügten - ein
erstes Parlament. Erst vor zwei Generationen hatte die dauerhafte
Besiedelung der Insel begonnen, in Husavik (Häuserbucht) an der
Nordküste.

Althing - das war zum einen Gerichtstag. Es galt, Streitigkeiten
zwischen den Familien zu schlichten. Streit um Weidegründe,
Wiedergutmachung nach Streithändeln, Festsetzung von Strafen. Zum
anderen war Althing Gesetzgebung. Vom Gesetzesfelsen (Lögberg) aus
leitete der Gesetzessprecher (Lögsögumadur) die Versammlung und trug
die Gesetze vor, die dann bis zum nächsten Althing in Kraft waren. Im
13. Jahrhundert hatte Snorri Sturluson zwei Mal diese mächtige
Position inne - als Verfasser der Prosa-Edda der berühmteste Skalde
(Sänger) Islands. Althing war aber auch eine Art Volksfest, zumal es
rund um die Sommersonnenwende stattfand, und ein Familientreffen, zu
dem auch die heiratsfähigen und -willigen jungen Leute reisten.

Im Jahr 1000 - das Jahr, in dem Leif Eriksson in Amerika landete -
traf dieses frühe Parlament eine weit reichende Entscheidung: Man
beschloss, dass sich Island dem Christentum zuwenden sollte. Nun gibt
es in Thingvellir jede Menge Wasser. Die Taufwilligen zogen
allerdings zum Laugurvatn, einem See mit heißen Quellen, um sich dort
taufen zu lassen. Lakonisch hält die Kristin-Saga fest, weshalb sie
es taten: "Weil sie Scheu vor kaltem Wasser hatten." Durch den
Übertritt zum Christentum änderte sich auch die Zusammensetzung der
gesetzgebenden Körperschaft (Lögretta), gehörten dieser nunmehr ja
auch die Bischöfe an.

Bis zum Jahr 1262 tagte der Althing regelmäßig in Thingvellir. Dieses
Jahr markiert eine wichtige Zäsur in der Geschichte Islands und
seiner eigenwilligen Demokratie: Die Insel kam unter die Herrschaft
Norwegens und musste vertraglich die Souveränität des norwegischen
Königs über die Insel anerkennen; das Althing nahm in der Folge auch
fremdes, d.h. norwegisches Recht an. Die Lögretta im Rahmen des
Althing auf dem Thingvellir, bestehend aus 36 Mitgliedern, teilte
sich die Legislative zwar formal mit dem König von Norwegen, realiter
aber bedurften die Gesetzesbeschlüsse der Lögretta der Zustimmung des
Königs. Das galt zwar auch umgekehrt - aber zur Erleichterung
installierte man statt des einen Gesetzessprechers zwei
"Rechtsprecher" (Lögmenn), womit der Wandel des Althing bzw. der
Lögretta zu einem Gerichtshof eingeleitet war und die gesetzgebende
Funktion zurücktrat. Ende des 14. Jahrhunderts kam Norwegen unter
dänische Herrschaft, und damit auch Island. Gegen Ende des 16.
Jahrhunderts wurde beim Althing zusätzlich ein Oberster Gerichtshof
eingerichtet, als Appellationsinstanz neben dem König.

Im Jahr 1000 hatte das Althing sich für das Christentum entschieden.
Im Jahr 1552 entschied die dänische Krone über die Konfession auf der
Insel: Island wurde protestantisch, gemäß dem im gleichen Jahr im
Passauer Vertrag formulierten Grundsatz "cuius regio, eius religio"
(wer regiert, der auch bestimmt die Religion). Das ging allerdings -
wie im übrigen Europa auch - nicht unblutig vonstatten: Auch ein
Bischof wurde ermordet, und zwar zusammen mit zweien seiner Söhne.
Ein paar Steine am Ufer des Laugarvatn markieren die Stelle, wo die
Toten gewaschen wurden. Es soll die gleiche sein, an der im Jahr 1000
die Massentaufe stattfand.

Fast 900 Jahre nach dem ersten Althing auf dem Thingvellir, genau im
Jahr 1798, fand die vorläufig letzte Versammlung an dieser
historischen Stätte statt. In den beiden folgenden Jahren tagte das
isländische Parlament in einer Schule in Reykjavik. Am 6. Juni 1800
wurde das Althing durch königliches Dekret aufgelöst. Seine
Funktionen wurden dem Obersten Gerichtshof übertragen, der bis zum
Jahr 1920 bestehen sollte. 1843 wurde, erneut durch königliches
Dekret, das Althing wieder errichtet. Ein Jahr später fanden Wahlen
statt, wieder ein Jahr später die erste Sitzung. Das Althing zählte
damals 26 Mitglieder; zwanzig waren gewählt, sechs vom König ernannt
worden.

Die alte parlamentarische Tradition Islands war damit neu belebt, und
der erste Präsident des Parlaments, Jon Sigurdsson, war dabei für
lange Zeit die treibende Kraft. Sein Geburtstag, der 17. Juni, ist
Islands Nationalfeiertag. Unter schwierigsten Bedingungen - zuerst
durch norwegische, dann dänische Handelsmonopole waren die Isländer
wie ein Kolonialvolk an der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung
gehindert gewesen - besannen sich die Isländer ihrer alten
Traditionen. In diesen Jahren war das Althing allerdings kein
Parlament im üblichen Sinn, sondern fungierte offiziell bloß als
beratendes Organ des dänischen Königs.

Aber schon 1851 wurde statt einer Sitzung des Althing eine
Nationalversammlung einberufen, die über Staats- und Regierungsform
in Island diskutierte. 1874 erreichten die Isländer zunächst
finanzielle Autonomie und die Zahl der Abgeordneten wurde auf 36
erhöht. Die Zahl der Abgeordneten wurde in der Folge weiter
angehoben: 1904 auf 40, 1920 auf 42, 1942 auf 52, 1959 auf 60,
zuletzt 1984 auf 63. 1904 erreichte Island Autonomie im Sinne von
"Home Rule"; damit war auch wieder die parlamentarische Demokratie
für Island hergestellt. Der von der Krone ernannte Islandminister,
der in Reykjavik (Rauchbucht) residierte, war dem Althing
verantwortlich und konnte durch einen parlamentarischen
Misstrauensantrag aus seinem Amt entfernt werden.

Ab 1908 wurden die Wahlen geheim durchgeführt; bis dahin hatte man
seine Kandidaten öffentlich durch Namensnennung bekannt gegeben. 1915
wurde schließlich das Elektorat erweitert: Ab diesem Jahr durften
auch Frauen wählen - und die Dienstboten. Im gleich Jahr fiel auch
die Ernennung von Abgeordneten durch die Krone. Aber das Parlament
wurde auch auf anderen Gebieten aktiv - etwa durch Gründung der
Universität von Island im Jahr 1911.

1918 wurde schließlich die Souveränität erreicht. Allerdings blieb
der dänische König Islands Staatsoberhaupt, und zwar bis zur Gründung
der Republik im Juni 1944. Auch die Außenpolitik war nicht Sache der
Isländer. Aber das Althing war in seiner Gesetzgebung in inner-
isländischen Angelegenheiten keinen Beschränkungen unterworfen. Die
entsprechende Sitzung des Althing fand an historischer Stätte statt:
auf dem Thingvellir, wo mehr als ein Jahrtausend früher das
isländische Parlament seinen Ausgang genommen hatte. Als erster
Präsident der jungen Republik wurde vom Althing Sveinn Björnsson
gewählt nach dessen plötzlichen Tod folgte ihm 1952 Asgeir
Asgeirsson, der dreimal ohne einen Gegenkandidaten wiedergewählt
wurde.

Von "voller Souveränität" konnte gleichwohl noch lange nicht die Rede
sein. Als 1940 Nazi-Deutschland Dänemark besetzte, reagierten die
Isländer sofort. Schon am auf die Besetzung folgenden Tag fasste das
Althing zwei wichtige Beschlüsse: Island übernahm die volle
Verantwortung auch für äußere Angelegenheiten und den Schutz seiner
Küsten, und die isländische Regierung sollte die Funktion des
Staatsoberhaupts übernehmen. Ab 1940 war die Insel von den Briten
besetzt, um einer befürchteten Invasion deutscher Truppen
zuvorzukommen, 1941 folgten die Amerikaner. Letztere sind bis heute
geblieben - wenn auch nicht als Besatzer, sondern als Verbündete.
Immerhin gehörte Island 1949 zu den Gründungsmitgliedern der NATO. In
diesem Zusammenhang kam es allerdings zu gewalttätigen
Ausschreitungen: Hunderte Isländer protestierten außerhalb des
Parlaments, als das Althing die NATO-Mitgliedschaft absegnete.

Die isländische Politik hat ein paar äußerliche Ähnlichkeiten mit
Österreich: Hier wie dort regiert derzeit eine große Koalition; in
Island wurde sie nach der Parlamentswahl am 12. Mai 2007 von der
konservativen Unabhängigkeitspartei (25 Mandate) und der
sozialdemokratischen Volksallianz (18 Mandate) gebildet. Vier
Parteien prägten traditionell die isländische Parteienlandschaft: die
Unabhängigkeitspartei (konservativ), die Fortschrittspartei
(liberal), die Sozialdemokratische Volkspartei und die Volksallianz
(marxistisch). Der letzteren gehörte als prominentester Isländer
Olafur Ragnar Grimsson an - heute das Staatsoberhaupt der
Inselrepublik. Seit den 70er Jahren war diese Struktur in Bewegung,
und Vereinigungsversuche der Linken führten zur Herausbildung neuer
Parteien, nämlich die Allianz, in der auch die erste Frauenpartei der
Welt aufging, und die Linksgrünen. Diese (9 Mandate), die
Fortschrittspartei (7 Mandate) und die Liberalen (4 Mandate) sind in
Opposition.

Das Althing ist ein Einkammerparlament, gewählt wird alle vier Jahre
in 6 Wahlkreisen, wahlberechtigt sind auf der Insel wohnhafte
Staatsbürger, die am Wahltag mindestens 18 Jahre alt sind.

Parlamentarier ist in Island ein Beruf für den Winter - wie ja
überhaupt viele Isländer zwei Berufe haben, einen für den kurzen
Sommer und einen für den langen Winter. Jeweils am 1. Oktober wird
die Parlamentssession eröffnet, und zwar zunächst mit der Auslosung
der Plätze im Sitzungssaal und dann mit einer programmatischen Rede
des Ministerpräsidenten. Im Mai vertagt sich das Parlament dann bis
Anfang Oktober. Während der Session finden grundsätzlich vier
Sitzungen pro Woche statt, und zwar von Montag bis Donnerstag. Die
Debatten werden elektronisch aufgezeichnet und im "Althingistidini"
publiziert. Die Gesetzesentwürfe werden in zwölf Ausschüssen mit
jeweils 9 Mitgliedern vorberaten; nur der Budgetausschuss hat elf
Mitglieder.

1867 fasste das isländische Parlament den Beschluss, im Jahr 1874,
aus Anlass der Millenniumsfeier der Besiedelung der Insel, ein
nationales Festival zu veranstalten und in der Hauptstadt Reykjavik
ein Parlamentsgebäude, zu errichten. Wie das Parlament in Wien wurde
auch jenes in Island von einem dänischen Architekten geplant. Während
in Wien der Bau Theophil Hansens im Jahr 1874 in Angriff genommen und
Ende 1883 die erste Sitzung des Abgeordnetenhauses durchgeführt
wurde, wurde der - doch deutlich kleinere - Bau in Reykjavik unter
dem Architekten Ferdinand Meldahl in den Jahren 1880 und 81
errichtet. In Wien wurde Baumaterial aus der gesamten Monarchie
verwendet, für das Hohe Haus in Island nahm man isländischen
vulkanischen Basalt. Auch der ausführende Baumeister und die meisten
Steinmetze kamen aus Dänemark. Oberhalb von vier Fenstern im 2. Stock
zeigen Halbreliefs die Schutzgeister Islands: einen Riesen, einen
großen Vogel, einen Stier und einen Drachen. Der Park, der neben dem
Parlament angelegt wurde, ist Islands erste öffentliche Gartenanlage.

Auf dem Thingvellir, dem Geburtsort des isländischen Parlaments
(www.althingi.is ), finden nur noch gelegentlich Festsitzungen oder
Sitzungen aus besonderen Anlässen statt, wie zur Ausrufung der
Republik im Jahr 1944. 1974 versammelte man sich zur 1100 Jahr-Feier
der Besiedelung der Insel, 1994 zum 50. Jahrestag der Gründung der
Republik und zuletzt im Jahr 2000 zum 1000 Jahr-Jubiläum des
Übertritts zum Christentum. Sollte sich Island eines Tages doch zum
EU-Beitritt entschließen, würde das Althing sich wohl wieder auf dem
Thingfeld versammeln.

Ein derartiger Schritt galt bis vor kurzem als wenig wahrscheinlich.
Doch in der Folge der wirtschaftlichen Entwicklung des Inselstaates
(so hat die Island-Krone gegenüber dem EURO zuletzt die Hälfte ihres
Wertes eingebüßt) neigte sich die Stimmung zuletzt deutlich in
Richtung EU: Die sozialdemokratische Außenministerin Ingibjörg Solrun
Gisladottir und ihre Fraktion sind schon länger dafür, während für
den konservativen Regierungschef Geir Hilmar Haarde derzeit noch die
Nachteile eines Beitritts überwiegen. Doch selbst er meinte unlängst
in einem Zeitungsinterview, dass die Ablehnung nicht für immer gelten
müsse. Die Bedeutung des Walfangs hat abgenommen, im Bemühen um den
Ausbau des Fremdenverkehrs setzen junge Unternehmer auf "Whale-
Watching". Könnte also gut sein, dass eine Parlaments-Sitzung unter
freiem Himmel gar nicht so fern ist.

HINWEIS: In dieser Serie sind bisher erschienen: Porträts der
Parlamente der Teilnehmerländer der EURO 08 sowie Darstellungen des
Parlamentarismus in Albanien, Andorra, Belgien, Bosnien, Bulgarien,
Dänemark, Estland, Finnland und Irland. (Schluss)

Eine Aussendung der Parlamentskorrespondenz
Tel. +43 1 40110/2272, Fax. +43 1 40110/2640
e-Mail: pk@parlament.gv.at, Internet: http://www.parlament.gv.at

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