• 05.05.2008, 17:53:52
  • /
  • OTS0270 OTW0270

Wiener Zeitung: Unterbergers Tagebuch: "Wo liegt Amstetten?"

Ausgabe vom 6. Mai 2008

Wien (OTS) - Einige Erholungstage auf einer einsamen Insel - und
man kehrt in ein verändertes Land zurück. Verändert hat sich vor
allem die Sichtweise der Weltöffentlichkeit auf Österreich. Das
Inzestdrama von Amstetten hat viele Journalisten zum tiefen Griff in
die Kiste der billigen Verallgemeinerungen und der noch billigeren
Ressentiments veranlasst. Und je tiefer die intellektuelle Kompetenz
der Schreiber liegt, umso tiefer war auch ihr Griff.

Gewiss: Die Vorgänge in jenem Keller waren so unfassbar und
unerträglich, dass man nach jeder Pseudo-Erklärung zu greifen
versucht. Gewiss: Die Analysen, die einen weiten Bogen von Natascha
Kampusch über Sigmund Freud und die (angebliche) Katholizität
Österreichs bis zu Adolf Hitler schlagen, sind so absurd, dass sie
bald wieder vergessen sein werden. Sie sind so unintelligent wie die
kleinkarierten Versuche, nun politische Verantwortlichkeiten
festzumachen.

Diese Verallgemeinerungen sollten uns aber dennoch eine Lehre
sein. Denn auch wir sind viel zu oft viel zu schnell mit Stereotypen
bei der Hand: die humorlosen Deutschen, die ultramontanen Schweizer,
die dummen Amerikaner, die korrupten Russen, die Missbrauch-freudigen
Belgier . . .

Als ob man ganze Völker so kategorisieren könnte. Dennoch ist
jener Inzest-Fall nicht nur ein einsamer Exzess. Wir sollten jetzt
über etliche Fragen nachdenken (nicht nur in Österreich), um die
Chance zu erhöhen, dass es nicht noch weitere Amstetten gibt: Da geht
es etwa darum, dass im Zuge der einseitigen Daten- und
Täterschutzhysterie schwer kriminelle Vorstrafen verblüffend rasch
wieder aus den Akten gestrichen werden; da geht es darum, ob wir
verdächtige Beobachtungen über fremde Familien ernst genug nehmen
(ohne dabei in ein Blockwart-Denken zu verfallen); da geht es um die
Einstellung der allkompetent gewordenen Exekutive, deren Behörden in
Wahrheit nichts lieber tun, als Problemen auszuweichen und sich
bequemen Routinen hinzugeben; da geht es um die Überladung der
Gesellschaft mit Pornografie und kommerziellen Sex-Angeboten, welche
die Befriedigung jeder noch so exzentrischen Gier als bloße Frage des
Preises erscheinen lassen.

Selbst die grässlichsten Taten können uns also ganz jenseits aller
voyeuristischen Detail-Lust so manches Grundsätzliche lehren.

http://www.wienerzeitung.at/tagebuch

Rückfragehinweis:
Wiener Zeitung
Sekretariat
Tel.: 01/206 99-478
mailto:redaktion@wienerzeitung.at

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS - WWW.OTS.AT | PWR

Bei Facebook teilen.
Bei X teilen.
Bei LinkedIn teilen.
Bei Xing teilen.
Bei Bluesky teilen

Stichworte

Channel