• 18.03.2008, 18:46:12
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"Die Presse" Leitartikel: "Das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen" (von Christian Ultsch)

Ausgabe vom 19.3.2008

Wien (OTS) - Am Anfang stand die Ignoranz: Im Irak lief so
ziemlich alles anders, als es sich die USA vorgestellt haben.
Zhou Enlai wurde im Jahr 1972 einmal gefragt, welchen Einfluss die
Französische Revolution auf den Gang der Weltgeschichte genommen
habe. "Es ist noch zu früh, das zu sagen", antwortete Maos Premier.
Da erscheint es vergleichsweise voreilig, die Auswirkungen des
Irak-Krieges abschließend beurteilen zu wollen. Eines Krieges, dessen
Ausgang nach fünf Jahren noch immer ungewiss ist.
Eine Zwischenbilanz aber lässt sich zu jedem Zeitpunkt, also auch
jetzt, ziehen. Und ein solches Resümee muss trotz einer leichten
Aufhellung der Gesamtentwicklung in den vergangenen Monaten düster
ausfallen. Seit dem viel kritisierten "Surge", der Aufstockung der
US-Truppen im Vorjahr, ist die Gewalt zwar um 70 bis 90 Prozent,
zurückgegangen. Bei mehr als 600 zivilen Opfern pro Monat von einer
Normalisierung der Lage zu sprechen wäre aber vermessen. Es gibt nun
weniger Anschläge in Bagdad, dafür aber mehr anderswo.
Der US-Armee ist es zwar gelungen, sunnitische Aufständische zu
kaufen und gegen die Terroristen der al-Qaida zu mobilisieren.
Gleichzeitig halten sich die schiitische Milizen von Moqtada al-Sadr
an eine Waffenruhe. Doch niemand kann sagen, wie lange diese fragilen
Arrangements halten. Von einer politischen Einigung sind die
verfeindeten ethnisch-religiösen Lager weit entfernt. Und die
aufkeimende Hoffnung, dass der Irak vielleicht doch noch vor dem
Abgrund gerettet werden könnte, zerstöbe in dem Moment, in dem sich
die Amerikaner zurückzögen.
Es ist bereits so viel schief gegangen im Irak, dass man sich fragen
muss, ob es überhaupt noch geradegebogen werden kann. Der Irak-Krieg
könnte dereinst noch als Musterbeispiel für das Gesetz
unbeabsichtigter Konsequenzen in die Lehrbücher eingehen. Bushs
Regierung wollte im Irak einen Leuchtturm der Demokratie errichten
und setzte beinahe die gesamte Region in Brand. Statt des brutalen
Schlächters Saddam Hussein haben nun keine aufgeklärten Liberalen das
Sagen im Irak, sondern religiöse Fanatiker, die Freiheit mit Sünde
gleichsetzen. Eines der vielen Motive für den Irak-Krieg war
zweifellos, den Zugang zum Öl zu sichern. Heute ist der Ölpreis vier
Mal höher als vor dem 19. März 2003. Davon haben Regime profitiert,
die dem Westen zum Teil offen feindlich gesinnt sind. Großer Gewinner
des Kriegs ist ein Land, das die USA mit ihren Kriegen in Afghanistan
und im Irak eigentlich einkreisen wollten: Der Iran ist heute
einflussreicher denn je. Demokratie und Menschenrechte fordern die
USA von ihren autoritären Verbündeten im Nahen Osten schon lange
nicht mehr ein. Sie sind froh, dass sie überhaupt noch Verbündete in
der Region haben. Es gab und gibt ein starkes Argument für den
Irak-Krieg: den Sturz Saddam Husseins. Doch der Krieg wurde so
katastrophal schlecht geplant und durchgeführt, dass das Konzept der
humanitären Intervention nachhaltig beschädigt wurde.
Die Liste der unbeabsichtigten Folgen des Krieges ließe sich
fortsetzen, bis hin zur hohen Verschuldung, in der die USA heute
stecken.

Wer die Komplexität sozialer Systeme beharrlich ignoriert und sie
ändern will, indem er mit dem Hammer draufhaut, kann seine blauen
Wunder erleben. Das hat der amerikanische Soziologe Robert K. Merton
schon im Jahr 1936 gründlich herausgearbeitet. Er nannte damals fünf
Gründe für sein Gesetz der unbeabsichtigten Konsequenzen: 1.
Ignoranz; 2. fehlerhafte Analyse; 3. Werte-gesteuertes Handeln; 4.
die "selbstzerstörende" Prophezeiung; 5) Kurzsichtigkeit.
Die ersten drei Gründe lassen sich mühelos auf das Irak-Desaster
münzen. Die Ignoranz Bushs und seines Verteidigungsministers Rumsfeld
waren kaum zu überbieten: Sie entsandten trotz mehrmaliger Warnungen
ihrer Militärs zu wenige Truppen, lösten die irakische Armee über
Nacht auf, schufen so ein fatales Vakuum und hatten im Grunde keine
Ahnung vom Irak.
Die "selbstzerstörende" Prophezeiung besagt, dass die Angst vor
erwarteten Konsequenzen Menschen dazu treibt, Lösungen zu finden,
bevor überhaupt das Problem auftaucht. Wie das zu Bush passt? Er ließ
sich Angst vor irakischen Massenvernichtungswaffen einjagen, die es
nie gab.
Dass die US-Regierung den Irak-Krieg aus einer kurzfristigen
Perspektive betrachtete, kann man ihr jedoch nicht vorwerfen. Im
Gegenteil: Männern wie Vize-Pentagonchef Wolfowitz schwebte ja vor,
den ganzen Nahen Osten von Irak aus umzugestalten. Ein eher
langfristiges Projekt, das nicht so läuft, wie man sich das
vorstellte. Aber wie sagte Zhou Enlai? Vielleicht ist es noch zu
früh, das zu sagen.

Rückfragehinweis:
Die Presse
Chef v. Dienst
Tel.: (01) 514 14-445

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