- 17.11.2006, 17:45:21
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DER STANDARD-KOMMENTAR "Die Rückkehr der Vernunft" von Gerfried Sperl
Auch die Körpersprache Gusenbauers und Schüssels ließ Hoffnung aufkommen - Ausgabe vom 18./19.11.2006
Wien (OTS) - Zum ersten Mal seit seiner Wahlniederlage hat
Wolfgang Schüssel auf eine Aussage Alfred Gusenbauers gesagt: "Ganz
meine Meinung". Zum ersten Mal wurden am Freitagnachmittag bei der
Pressekonferenz der beiden keine Justament-Standpunkte
heruntergebetet. Zum ersten Mal schienen beide zu signalisieren: Auch
wenn wir große Koalitionen nicht mögen, jetzt wollen wir sie
wenigstens. Die Vernunft ist in die österreichische Spitzenpolitik
zurückgekehrt.
Das bedeutet noch lange nicht, dass eine große Koalition beschlossene
Sache ist. Lauter Optimismus ist auch deshalb nicht am Platz, weil
wir nicht wissen, ob SPÖ und ÖVP selbst bei einer Einigung ein
ehrgeiziges Programm vorlegen. Es kann (und das ist bei solchen
Koalitionen immer zu befürchten) auch ein lausiges sein.
Die Wochen des Stillstandes und der Ersatz der Politik durch
burleskes Theater haben immerhin gezeigt, dass diese Republik auch
ohne das Gezänk ihrer Spitzenfunktionäre auskommt. Weil wir eine
funktionierende Wirtschaft haben, weil es ein spannendes Kulturleben
gibt und weil viele NGOs helfen, soziale Härten auszugleichen und
Vorurteile abzubauen.
Offenbar ist den obersten Parteigremien auch klar geworden, dass die
lachhaften Konfrontationen, grotesken Wortspenden und peinlichen
Selbstdarstellungen letztlich die demokratische Qualität des Landes
mindern. Neuwahlen also nur deshalb, weil man keine Lösung findet?
Wer daraus den Schluss gezogen hätte, den Wahllokalen fernzubleiben,
wäre kein Demokratie-Verweigerer gewesen. Sondern ein Demonstrant
gegen die Unfähigkeit, ja gegen die Unverfrorenheit der gewählten
Politiker.
So. Aber wie geht es weiter? Die Körpersprache Gusenbauers und
Schüssels schien zuversichtlich. Die gesprochenen Sätze, das
"wording" verrieten Bestimmtheit. So wie sie da nebeneinander
standen, schien die Chemie wieder zu stimmen. Trotzdem wäre es ein
Advent-Wunder, wenn die Verhandlungen noch vor Weihnachten
erfolgreich abgeschlossen würden. Zeitliches Hindernis ist vor allem
der Eurofighter-Untersuchungsausschuss. Und sein Ergebnis.
Wird nichts gefunden, dann hat die SPÖ keinen triftigen Grund
auszusteigen. Die ÖVP wäre im Recht, man könnte höchstens mit einer
Reduzierung der Zahl der Flugzeuge eine billigere Optik erzeugen.
Sicher aber wäre ein Streitpunkt vom Tisch.
Zeitlich weniger sensibel, aber in der Sache schwierig ist die Causa
Universitäten, vor allem die von der SPÖ geforderte Abschaffung der
Studiengebühren. Hier müsste jedoch ebenso ein Kompromiss zu finden
sein wie in der Frage der Gesamtschule. Wahrscheinlich wird sich die
SPÖ mit der Lösung anfreunden müssen, dass diese Schulform als eines
der Angebote in einem gefächerten Schulsystem gilt. Die
Ganztagsschule müsste gestärkt werden, große Teile der ÖVP sind
ohnehin dafür. Und warum soll sie in den Klöstern super sein, in der
offenen Schullandschaft nicht?
In der Wirtschafts- und Sozialpolitik werden SPÖ und ÖVP vor allem
über die Grundsicherung streiten. Wahrscheinlich ist ein Kompromiss,
kombiniert mit einer Lehrlingsoffensive nach sozialdemokratischen
Vorstellungen. Ähnliche Möglichkeiten der Kooperation gibt es in der
Ausländerpolitik. Caritas und Diakonie würden aufatmen.
Schon vor der Pressekonferenz um 15.30 Uhr konnte man am Bildschirm
ablesen, dass eine Einigung in Sicht war. Die Klubobmänner Cap und
Molterer, die sich in den letzten Tagen nicht mehr schmecken konnten,
standen wie ausgewechselt nebenein-ander. Die Politik ist halt ein
Theater.
Hoffen wir, dass die Protagonisten wieder von der Bühne
herunterkommen und in den Proberäumen ernsthaft das Stück des
wirklichen Lebens in die Hand nehmen.
Die Verdrossenheit der Österreicher war selten so hoch wie in diesem
Herbst. Die Schüssels, Westenthalers und Pilze waren nah dran, das
Niveau des österreichischen Fußballs zu streifen.
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Der Standard
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