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"Die Presse"-Leitartikel: "Warten auf das Kabinett Klima II" (von Michael Fleischhacker)

Ausgabe vom 7.10.2006

Wien (OTS) - Bis über Koalitionen verhandelt wird, beherrschen Therapie, Inszenierung und Moralin das Geschehen.

Bis zum kommenden Dienstag wird man sich gedulden müssen, bis man aus österreichischen Politikermündern wieder ein halbwegs verwertbares Wort zum Fortgang der Dinge in Sachen Regierungsbildung wird hören können. Derzeit erschöpfen sich die Äußerungen in Abschiedsschmerzverarbeitung auf der schwarzen und Klima-Retro-Populismus auf der roten Seite.
Unter Abschiedsschmerztherapie fallen die starken Sager etlicher VP-Politiker, die nun darauf drängen, die "rechte" Mehrheit im Parlament (die, wie meine Kollegin Martina Salomon gestern an dieser Stelle überzeugend dargelegt hat, inhaltlich ohnehin keine ist) zu realisieren. Das klingt ein bisschen sehr nach dem lauten Pfeifen geängstigter Kinder im dunklen Wald.
Wahlsieger Alfred Gusenbauer muss sich vor der Erfüllung seiner eigenen Wahlversprechen deutlich mehr fürchten als vor der schwarz-blau-orangen Alternative: Wenn das passiert, wird Heinz Fischer tief in die Trickkiste der Rechte des österreichischen Bundespräsidenten greifen. Das dort verstaute Verfassungswerkzeug reicht locker aus, um ein Neuwahlszenario zu basteln, in dem die ÖVP als dreifacher Wiederholungstäter erst gar nicht mehr antreten muss. Es wird für die ÖVP Zeit, zwei Dinge zu verstehen. Erstens: Die rechte Karte sticht nicht mehr. Zweitens: Es gibt für sie nur zwei realistische Alternativen. Entweder sie zerbröselt in einer großen Koalition, oder sie versucht, programmatisch stringent zu bleiben und in neuerlichen Wahlen - gleich oder nach einem Jahr Minderheitsregierung - eine klare Entscheidung zu suchen.

Auf Seiten der SPÖ wird man bis zur Erteilung des Regierungsbildungsauftrags bei der Mischung aus Spätzündernapalm à la "Grundsicherung" und Siegerpopulismus der Marke Josef Kalina bleiben. Wie immer die künftige Koalition aussehen wird: Die ersten Aktivitäten von Gusenbauers Kommunikationschef deuten darauf hin, dass wir inszenatorisch auf ein "Kabinett Klima II" zusteuern. Der neue Volkskanzler hat zwar die Gummistiefel gegen Laufschuhe getauscht, dafür fährt er, versprochen, auch in Zukunft mit der U-Bahn ins Hanappi-Stadion. Und nach dem Schlusspfiff köpft er wahrscheinlich mit den Rapid-Fans einen Doppler Barolo.
Was dann, wenn der offizielle Auftrag zur Bildung einer neuen Bundesregierung an Alfred Gusenbauer ergangen ist, passieren wird, ist schwer zu sagen. Es lässt sich aus den jüngsten Wortmeldungen der Protagonisten nur einigermaßen erahnen. Die Einlenkmanöver aus dem roten Verhandlungsteam zum Beispiel klingen noch bedrohlicher als die volksdemokratischen Erwägungen, die der neue Kanzler im ersten Adrenalinschub veröffentlichte. "Gesichtswahrende Projekte" kündigte der steirische Landeshauptmann Franz Voves an. Wie man weiß, ist Gesichtswahrung ein anderes Wort für Gesichtsverlust. Will heißen:
Beim Verhandeln verlieren beide so lange das Gesicht, bis sie keines mehr haben. Das lässt sich dann eine Zeitlang wahren.
Aus Voves' Sicht geht das vermutlich ungefähr so: "Wir schlucken die Eurofighter, an denen ohnehin kein Weg vorbei führt, und lassen die Pensionsreform unverändert, deren Rücknahme uns ohnehin nur in mörderische Schwierigkeiten brächte. Dafür stimmt die ÖVP der Gesamtschule und der Abschaffung der Studiengebühren zu. Dann machen wir noch eine große Gesundheitsreform wie die Deutschen, und alles wird gut."
Dass alles gut wird, glauben seit dem vergangenen Sonntag ja viele, die sich um das Gute schon immer besonders gesorgt haben. Joachim Riedl beispielsweise, eine der intellektuellen Ikonen des Landes, erklärt auf der aktuellen Titelseite der Hamburger Wochenschrift "Die Zeit", eine große Koalition unter Alfred Gusenbauer berge "die Chance einer moralischen und intellektuellen Erneuerung".
Man muss sich das wohl als eine Art säkularisierten Rosenkranz-Sühnekreuzzug der üblichen Unverdächtigen vorstellen:
Riedl vorneweg, mit bewegter Stimme aus seinem "Wendekanzler"-Buch vortragend, dazwischen das gemeine Volk der Entrechteten und Gequälten der vergangenen Jahre, gegen Ende eine Abordnung von Geläuterten, die inzwischen auch schon immer gewusst haben, dass das nichts werden kann mit Mitte-Rechts in diesem Land. Und am Ende ein Doppelquartett von moralisch erneuerten Journalisten, die Mantras von Armin Thurnher summen.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass eine große Koalition Stillstand bedeutet.

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