Wiener Zeitung: Andreas Unterbergers Kommentar
Wien (OTS) - Essen oder nicht essen?
Die Opposition hat ihre Attacke auf Karl-Heinz Grasser gewendet. Es geht nicht mehr darum, dass Grasser bei einem Yacht-Törn den mutmaßlichen Bawag-Mittäter Flöttl getroffen hat, sondern darum, dass er sich von einem Banker einladen ließ.
Faktum ist, dass solche Einladungen kaum jemand für strafrechtlich verboten hält. Faktum ist aber auch, dass sie in etlichen anderen Ländern strikt untersagt sind.
Österreich hat diesbezüglich eine andere Kultur. Bei jeder zweiten Premiere ist das Theater voller Gratisgäste (Denn: Sagt ein Politiker immer ab, ist er ein Kulturbanause und unhöflich, nimmt er aber an, ist er für Puritaner korrupt). Spitzenindustrielle kaufen bei tollen Konzerten den halben Musikverein auf, um die Tickets samt noblem Abendessen an wichtige Persönlichkeiten zu verteilen. Es gibt keinen relevanten Journalisten, der noch nie von Wirtschaftsbossen oder Politikern zum Essen geladen worden wäre. Umgekehrt lädt etwa auch der Finanzminister regelmäßig interessante Runden zum Essen in seinen Roten Salon.
Soll das alles verboten werden? Oder ist es ganz unbedenklich? Die Antwort lautet wohl: Weder noch. Zweifellos können wirklich korrupte Deals auch bei einem Glas Wasser besprochen werden.
Dennoch hat (fast) jeder Mensch eine größere Beißhemmung gegenüber jemandem, mit dem er gesellschaftlichen Umgang pflegt, als bei ihm persönlich Unbekannten. Das ist zwar immer problematisch - aber im Grund nicht zu verhindern, selbst wenn schon ein Glas Sodawasser kriminalisiert würde. Kein Wirtschaftsboss, kein Politiker und (hoffentlich) kein Journalist fühlt sich durch ein Essen oder ein Ticket bestochen - aber es gehört in jedem Fall Rückgrat dazu, auch gegen jemandem scharf vorzugehen oder zu schreiben, den man gut kennt.
Andererseits gehört es zweifellos zu den positiven Seiten des österreichischen Klimas, wenn sich alle wichtigen Akteure dieses Landes persönlich kennen, wenn sie nicht nur bei strengen Sitzungen, sondern auch in angenehmer Umgebung entkrampft und ausführlich über Probleme reden können, wenn nicht ständig neurotisch Regeln aufgestellt werden. Alle Botschafter der Welt laden etwa ständig Politiker, Intellektuelle und Journalisten ein. Sind diese deswegen alle Kriminelle?
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