"Kleine Zeitung" Kommentar: "Kroatien wäre das erste Opfer, wenn EU-Verfassung scheitert" (Von Michael Jungwirth)
Ausgabe vom 16.06.2006
Graz (OTS) - Das Österreich-Halbjahr in der EU neigt sich dem Ende zu. Ihre Präsidentschaft haben die Österreicher ganz ordentlich absolviert. Ein Vorsitz kann nicht das Rad neu erfinden, sondern erledigt in erster Linie, was der Vorgänger übrig gelassen hat. So überrascht es nicht, dass beim Gipfel für die EU-Verfassung nicht der Stein der Weisen gefunden wird. Ob dies jemals gelingt?
Ein Jahr nach dem Doppel-Nein bleibt die Lage verfahren. 15 Länder, darunter Österreich, haben den Text ratifiziert, Franzosen und Niederländer werden das Papier kein zweites Mal ihrem Volk vorlegen.
Schüssel und einige andere hoffen, dass bis 2009, wenn eine neue Kommission und ein neues Parlament ihr Amt antreten, sich der Knoten irgendwie entwirrt. Die Verfassung könnte in leicht modifizierter oder abgespeckter Form unter andrem Namen das Licht der Welt erblicken. Garantie dafür gibt es keine.
Denn in Großbritannien, Tschechien und Polen ticken die Uhren anders. In London übernimmt bald der Euroskeptiker Gordon Brown das Zepter, Prag und Warschau driften immer stärker in dieses Lager ab. Das Trio hat mit der Verfassung überhaupt nichts am Hut.
Die EU-Verfassung ist das Ergebnis langer, schwieriger Verhandlungen und ein politisch fein ziselierter Kompromiss, dem die Briten nur mit Zähneknirschen zugestimmt haben.
Aus London vernimmt man, dass sich die Briten mit einer kosmetischen Operation nicht begnügen wollen, sondern das Rad der Zeit zurückdrehen und einige Errungenschaften, wie den EU-Außenminister, wieder aus der Welt schaffen wollen.
Das wäre das von den Briten herbeigesehnte Ende des Verfassungsexperiments. Substanzielle Neuverhandlungen kämen einer Öffnung der Büchse der Pandora gleich. Für einen institutionellen Schnellschuss hat Europa nicht die Kraft. Der Tod der EU-Verfassung, das wäre doch nicht weiter schlimm? Institutionelle Fragen locken doch keinen Bürger hinter dem Ofen hervor.
Es stimmt, dass die EU in erster Linie in einer Vertrauenskrise steckt. Selbst totale Transparenz würde am Misstrauen wenig ändern. Andererseits trägt die EU-Verfassung genau den Forderungen nach mehr Effizienz, Bürgernähe, Subsidiarität Rechnung.
Das Ende der Verfassung hätte aber noch eine andere folgenschwere Konsequenz: das vorübergehende Aus der Erweiterung. Der derzeit gültige Nizza-Vertrag regelt nur die Aufnahme Bulgariens und Rumäniens. Das erste Opfer eines Aus für die EU-Verfassung wäre Kroatien. ****
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