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DER STANDARD-KOMMENTAR "Das Undenkbare denken" von Josef Kirchengast

Wie kann der Westen Russland stärker einbinden? Durch eine Nato-Mitgliedschaft. - Ausgabe vom 4.1.2006

Wien (OTS) - Nach den Terroranschlägen von Madrid und London 2004/ 2005 macht der russisch-ukrainische Gasstreit den Europäern erneut klar, wie trügerisch die Sicherheit ist, in der sie sich so gern wiegen - auch den Österreichern mit ihrer vermeintlichen Vollkaskoversicherung namens Neutralität.

Mit einem geschickten Schachzug peilt das Russland des Geheimdienstveteranen Wladimir Putin mindestens drei Ziele auf einmal an: die Demütigung durch die "orange Revolution" in der Ukraine zu überwinden und das dortige prorussische Lager für die Parlamentswahlen im März zu stärken; andere Länder im "nahen Ausland" (dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion) vor einer allzu kritischen Haltung gegenüber Moskau zu warnen; und schließlich Europa seine Abhängigkeit vom östlichen Riesenreich vor Augen zu führen.

Ob die zwei ersten Ziele erreicht werden, ist noch nicht ausgemacht. Denkbar sind auch heftige Gegenreaktionen auf das eindeutig imperiale Gehabe Moskaus, das mit wirtschaftlichen Argumenten verbrämt wird -so plausibel diese auch klingen mögen. Der Kreml spielt hier also erneut mit hohem Einsatz.

Was aber Europa betrifft, so hat sich der Einsatz offensichtlich bereits gelohnt. Verschreckt durch die plötzlich gesunkenen Gaslieferungen, hütet man sich in der EU vor einer Parteinahme für die Ukraine. Realpolitik lautet wieder einmal die Devise einer europäischen Russland- Strategie, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Das EU-Kooperationsabkommen mit Moskau ist nur eine wortreiche Behübschung dieser Tatsache. Wie man den autoritären Tendenzen im Innern und dem neoimperialen Gestus in der Außenpolitik Russlands begegnen soll, dafür gibt es keine einigermaßen schlüssige Linie.

Klar ist, dass ein EU-Beitritt Russlands selbst in sehr langfristiger Perspektive nicht infrage kommt. Die schiere Größe des Landes steht dagegen, von anderen Faktoren wie Kultur und Tradition ganz zu schweigen. Wie aber steht es um eine Mitgliedschaft in der Nato? Putin selbst hat diese Möglichkeit angesprochen, 2001, kurz nach den Terrorangriffen des 11. September in den USA. Der Westen habe keinen Grund mehr, Gespräche darüber zu verweigern, sagte er während eines Besuchs in Berlin.

Seither hat sich das Ost-West-Klima wieder abgekühlt, und in weiten Teilen des russischen Militär- und Geheimdienstapparats wie auch der Diplomatie wird die Nato noch immer oder schon wieder als Lieblingsfeindbild gehätschelt - wider besseres Wissen: Denn in Wahrheit bedeutet die Osterweiterung der Nato einschließlich der einst zur Sowjetunion gehörenden drei baltischen Republiken auch für Russland einen Stabilitätsgewinn. Die Zugehörigkeit dieser Länder zu einem der Demokratie verpflichteten Bündnis erhöht deren Stabilität und Verlässlichkeit. Dasselbe würde auch für die Ukraine und Georgien gelten. Und erst recht für Russland.

Der Verdacht liegt nahe, dass genau aus diesem Grund ein Nato-Beitritt der Ukraine von den erwähnten Kräften in Moskau zum Knackpunkt in den Beziehungen zum Westen hochstilisiert wird. Indem eine vermeintliche westliche Einkreisungsstrategie gegen Russland beschworen wird, soll nicht nur die Aufrechterhaltung, sondern auch die Ausdehnung des eigenen Machtsystems gerechtfertigt werden. Mit einer offiziellen Einladung zur Mitgliedschaft würde die Nato dieses Lager in arge Verlegenheit bringen und Putin dazu zwingen, Farbe zu bekennen.

Dabei darf es freilich nicht um einen kurzfristigen taktischen Erfolg des Westens gehen, sondern um eine ehrliche, strategisch angelegte Partnerschaft mit gleichen Rechten und Pflichten. "In diesen Tagen ist nichts mehr undenkbar", sagte nach 9/11 der damalige US-Außenminister Colin Powell über eine Nato-Mitgliedschaft Russlands. Deren praktische Umsetzung wäre sicher kein Spaziergang. Aber der politisch stabilisierende und wirtschaftlich stimulierende Effekt für Europa und die Welt würde jede Anstrengung rechtfertigen.

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