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Neues Buch über Österreichs Außenpolitik im Parlament vorgestellt Michael Gehler: 1292 Seiten kritische Würdigung einer Erfolgsstory

Wien (PK) - Nationalratspräsident Andreas Khol begrüßte heute Abend prominente Gäste aus Wissenschaft, Verwaltung, Medien und Politik zur Präsentation einer Neuerscheinung zur jüngeren Geschichte Österreichs im Parlament. Vorgestellt wurde Michael Gehlers zweibändiges Werk über "Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten Besatzung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts".

Die kürzlich im Innsbrucker StudienVerlag erschienene Monographie auf insgesamt 1292 Seiten sei "sorgfältigst" gearbeitet und spannend zu lesen, sagte Präsident Khol und hob hervor, dass Gehlers Zeitraum nicht, wie sonst üblich, 30 Jahre vor dem Erscheinungsdatum ende, sondern bis in die Gegenwart reiche.
Gehler mache deutlich, was die Zweite Republik von der Ersten unterscheide - hätten jener bei innerem Hader die äußeren Freunde gefehlt, sei die Zweite Republik ein Land, das jeder wolle und
das keine außenpolitischen Probleme habe.

Der Historiker Michael Gehler

Namens des StudienVerlags stellte Martin Kofler den 1962 in Innsbruck geborenen Buchautor vor. Michael Gehler studierte Geschichte und Germanistik in Innsbruck und habilitierte sich
1999 mit einer Biographie über Karl Gruber. Von 1992 bis 1996
hatte Gehler als Research Fellow des FWF in Wien und 2001/02 als Alexander von Humboldt-Stipendiat gearbeitet. Er ist Professor
für Neuere und Zeitgeschichte in Innsbruck, Permanent Senior
Fellow am Zentrum für Europäische Integrationsforschung in Bonn und Mitglied der Forschungsgruppe Europa am
Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Gehler war
Gastprofessor an den Universitäten Rostock und Salzburg und lehrt derzeit auch an der Universität Leuven. Als Schwerpunkte seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit nennt der Historiker die Geschichte der Studenten, der Region Tirol/Südtirol, internationale Beziehungen, europäische Integration, vergleichende europäische Zeitgeschichte, transnationale Parteienkooperation sowie die österreichische Außenpolitik und die Ungarnkrise 1953-57.

Schließlich dankte Michael Gehler für die Gelegenheit, sein Buch im Hohen Haus präsentieren zu können und berichtete zunächst von Schwierigkeiten beim Schreiben über österreichische Außenpolitik. Es sei kein bevorzugtes Thema der österreichischen
Zeitgeschichte, es gebe keine Zeitschrift und auch kein Jahrbuch
zur Außenpolitik mehr, es scheine fast, so Gehler, als habe die Außenpolitik keine Zeit mehr für ihre eigene Geschichte. Das stimme nachdenklich, meinte der Historiker, denn die Außenpolitik sei ein wertvolles Gut Österreichs. Sie habe wesentlich zur Existenzsicherung der Zweiten Republik und zur Identitätsfindung Österreichs beigetragen, paradoxerweise aber wenig öffentliches Interesse gewonnen. Sie sei lange Zeit ein Gegenstand weniger Fachleute gewesen und auch im Parlament nicht sehr ausführlich behandelt worden, sieht man von Ausnahmen ab, etwa der Südtirol-Debatte im Jahr 1969 und dem Thema EU-Beitritt im Jahr 1994.

Michael Gehler wachselte dann zum Thema Neutralität und sagte pointiert, alle jene, die die Neutralität in den neunziger Jahren "schlecht und tot geredet haben", hätten mittlerweile zur
Kenntnis nehmen müssen, dass Totgesagte länger leben. Die Neutralität habe sich in den Krisen der Jahre 1956, 1968 und 1991 bewährt, erinnerte der Historiker und unterstrich, dass
Österreich in ihrem Zeichen Vermittlungskompetenz entwickelt und eine ganz entscheidende Rolle gespielt habe, als es in den
achtziger Jahren darum gegangen sei, den KSZE-Nachfolgeprozess aufrecht zu erhalten.

Das Buch

In seiner übersichtlich gestalteten und bis in die letzte Fußnote verständlich formulierten zweibändigen Monographie zur Außenpolitik der Zweiten Republik orientiert sich Michael Gehler
am neuesten Forschungsstand, reflektiert seine Arbeitsmethoden
und legt die Bewertungsmaßstäbe offen. Es gehe ihm nicht um eine "cultural study" zur Außenpolitik, sondern um eine chronologisch gestaltete "politische" Geschichte, die innere Entwicklungen und
die Veränderungen im internationalen Kontext Österreichs miterzählt - sein Buch so somit auch eine Geschichte der Zweiten Republik, schreibt der Autor.

Der Leser profitiert zunächst von der klaren und wohlbegründeten Gliederung des umfangreichen und komplexen Themas. Als erste von insgesamt sechs Perioden der österreichischen Außenpolitik identifiziert Gehler die "langen Fünfziger" (1945 bis 1961) mit
den Hauptthemen Existenzsicherung des Staates, Gruber-De Gasperi-Abkommen, Neutralitätsfindung, Emanzipation von den Besatzungsmächten, Gang zur UNO, Südtirol-Resolutionen und neues Selbstbewusstsein Österreichs.

Der Aufbruch Österreichs zu neuen europäischen Ufern in Ost wie West und der Südtirol-Kompromiss 1969 im Zeichen von "Paket" und "Operationskalender" sind die zentralen außenpolitischen
Ereignisse der "kurzen Sechziger" (1961 bis 1969).

Im Mittelpunkt der "langen Siebziger" (1970 bis 1986) standen die positive Wahrnehmung Österreichs und seiner Brückenfunktion im Ausland, die Persönlichkeit Bruno Kreiskys und Wien als Stadt der internationalen Begegnung.

Die seit Bruno Kreisky weit über die reale Bedeutung des Landes hinausgehende Außenpolitik habe mit der Wahl Kurt Wahlheims geendet. In den "kurzen Achtzigern" (1986 bis 1992) habe dem
"Modell Österreich", der "Insel der Seligen" im Zeichen der "Waldheim-Affäre" Isolation gedroht. Vor diesem Hintergrund
wertet Gehler Alois Mocks Aufbruch nach Europa auch als Ausbruch
aus der Isolation und die Südtirol-Streitbeilegung vor der UNO
als Vorleistung der EG-Beitrittspolitik.

"Außenpolitik im neuen Europa" überschreibt Gehler dann die Periode 1993 bis 2000 von der Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen über die 66,6%-Referendumsmehrheit für den 1995 vollzogenen EU-Beitritt und die österreichische Ratspräsidentschaft bis zu ersten Enttäuschungen der Bevölkerung wegen unerfüllter Erwartungen im EU-Alltag. Die Sanktionen der
"EU 14" haben den selbsternannten "EU-Musterschüler" Österreich dann "wie ein Blitz aus heiterem Himmel" getroffen und ihm den Relevanzverlust seiner nationalen Souveränität bewusst gemacht, analysiert Gehler.

An der Außenpolitik der Regierungen Schüssel I und II (2000 bis 2005) beschreibt der Autor die Aspekte "Vergangenheitspolitik"
und "Europäisierung", registriert fehlenden außenpolitischen Konsens mit der Opposition und Interessengegensätze innerhalb der Kabinette.

Intensiv setzt sich Michael Gehler mit den raschen Veränderungen
im internationalen Kontext der österreichischen Außenpolitik auseinander. Das bipolare Mächtesystem habe auch nach der Besatzungszeit den Rahmen für Österreich vorgegeben. Erst der Zusammenbruch der poststalinistischen Regierungssysteme in
Mittel- und Osteuropa (1989/90) und das Ende der UdSSR (1991)
habe dies grundlegend geändert. Nach der Auflösung des Warschauer Paktes sei zunächst ein multipolares Mächtesystem entstanden, das durch das Machtstreben der USA nunmehr unipolare Formen annehme, wobei sich Österreich zwischen EU-, UNO- und Neutralitätserfordernissen positioniere. Seit der Öffnung der Mitte und des Ostens Europas für den Westen suche Österreich nach einer neuen außenpolitischen Rolle und neuen Partnern.

Gehler fragt, welche Kriterien und Maßstäben bei der Beurteilung der Außenpolitik eines europäischen Kleinstaates in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten könnten. Dient Außenpolitik den Interessen und Zielen der Republik, der EU, der StaatsbürgerInnen, der internationalen Gemeinschaft, der
Sicherheit und der Erhaltung des Weltfriedens, der Lösung des Ost-West- oder des Nord-Süd-Konflikts und damit zur Beseitigung
der Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Welt?

Positive Wirkungen bescheinigt Gehler jedenfalls der österreichischen Sicherheits- und Friedenspolitik. Sein Beitrag
sei weder gering noch unbedeutend gewesen. Die Neutralität habe
zum Gewaltverzicht beigetragen und damit sicherheitsfördernd und systemstabilisierend gewirkt. Kriege wie in Korea, Vietnam und
auf dem Balkan konnten zwar nicht verhindert werden, Österreich habe aber im Rahmen der Neutralität Standpunkte bezogen, vermittelt, gute Dienste geleistet und Konflikte gelindert. So
wenig Sinn die Neutralität in der EU noch haben möge, bei gewaltsamen Konflikten außerhalb Europas bleibe sie weiterhin wichtig. "Österreichs Außenpolitik stand und steht im Zeichen von Gewaltlosigkeit und Friedensförderung", konstatiert der
Historiker und stellt die kritische Frage, welchen Interessen die Teilnahme Österreichs an "battle groups" und "out of area"-Einsätzen diene.

Die Neutralität in die EU hineinzuretten und den Wandel von einem "immerwährend neutralen" Staat in der Zeit des Kalten Krieges zu einem substantiellen EU-Mitglied zu vollziehen, sei "ein hochpolitischer und diplomatischer Drahtseilakt" gewesen. Die Neutralität konnte mit den Solidaritätserfordernissen einer zukünftigen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik ohne Aufhebung des Bundesverfassungsgesetzes über die immerwährende Neutralität verträglich und vereinbar gemacht werden.

Gehler schreibt seine Geschichte der österreichischen
Außenpolitik in der Zweiten Republik als eine Erfolgsgeschichte. Auf Kritik verzichtet der Wissenschaftler aber nicht. So sei die
von den Alliierten entwickelten These vom Nazi-Opfer Österreich zwar erfolgreich umgesetzt und ihr Ziel, die politische
Emanzipation von Deutschland, erreicht worden. Der steigende Wohlstand hätte aber viel früher - und nicht erst 50 Jahre später - einen offeneren Umgang mit der Rolle vieler Österreicher im Nationalsozialismus und eine aufrichtige Versöhnungs- und konsequente Restitutionspolitik ermöglicht, schreibt Gehler.

Die phasenweise forcierte Westorientierung der Außenpolitik habe die Realisierung einer wirkungsvolleren Mitteleuropa-Politik erschwert, insbesondere im Zeichen der forcierten EG/EU-Beitrittspolitik seit Ende der achtziger Jahre, registriert
Gehler. Erst sehr spät sei das Konzept einer "Strategischen Partnerschaft", nunmehr "Regionale Partnerschaft" entwickelt
worden.

Die Argumentation im Vorfeld des EU-Beitritts, die nationale Souveränität würde dank des Veto-Rechts im Rat zumindest bewahrt, wenn nicht erweitert, habe sich nach 1995 als Wunschdenken herausgestellt, analysiert Gehler: Österreich habe mit dem EU-Beitritt mehr nationale Souveränität verloren, als es europäische Souveränität hinzugewann, weil es die europäische Souveränität mit mächtigeren Staaten teilen müsse. Wie sehr das Gewicht der "Großen" in der EU zunehme, zeigen laut Gehler der Vertrag von Nizza und der Verfassungskonvent. Diese Entwicklung sei auch mit
dem verstärkten Wettbewerb im Zeichen der Globalisierung zu erklären. Das zunehmende Interesse an einem geschärften Außenprofil der Union lasse die Rolle mächtiger Mitgliedstaaten
zu Lasten der Kleinen wachsen. Dennoch gelte, dass Österreich als EU-Mitglied nicht nur nationalstaatliche Souveränität eingebüßt, sondern auch europäische Handlungsspielräume hinzugewonnen habe.

Michael Gehler schließt seine Bilanz der österreichischen Außenpolitik der Zweiten Republik als Erfolgsgeschichte:
Österreich habe sich nach 1945 mit Hilfe der Alliierten vom Deutschlandkomplex freigemacht, durch seine Existenzsicherungs-
und Wiederanerkennungspolitik dauerhaft Unabhängigkeit errungen, Souveränität ausgeübt, erfolgreich Neutralität praktiziert und außenpolitische Handlungsspielräume gewonnen. Die Außenpolitik habe zur Konsolidierung und Stabilisierung der Zweiten Republik beigetragen, Identität gestiftet und die Nationsbildung unterstützt. Persönlichkeiten wie Kurt Waldheim, Lujo-Toncic-Sorinj, Franz Karasek, Walter Schwimmer und Peter Schieder haben führende Funktionen in der UNO und im Europarat eingenommen. Österreichs Südtirolpolitik und seine aktive Rolle beim Peace-Keeping der UNO haben das nationalen Selbstwertgefühl der Österreicher gehoben. Dazu kam die internationale Anerkennung,
die das Land für sein Engagement in der Flüchtlingshilfe und andere Dienste für die Staatengemeinschaft erhielt. Gehler nennt die aktive Mitwirkung am Entspannungsprozess in Europa und Österreichs wichtigen Beitrag zur Fortsetzung des durch Afghanistan-Intervention, verschärften Ost-West-Konflikt und zugespitztes Wettrüsten gefährdeten KSZE-Nachfolgeprozesses.

Dank Bruno Kreiskys herausragender Politikerpersönlichkeit war Österreich ein maßgeblicher Faktor der "N+N-Staaten" (Blockfreie und Neutrale) und seine allseits akzeptierte aktive Neutralitätspolitik in den siebziger und achtziger Jahren ein integraler Teil des internationalen Systems und der europäischen Sicherheitspolitik.

Eine "wenn auch späte, aber minderheitenschutzrechtlich und autonomiepolitisch sehr beachtliche Erfolgsgeschichte" ist für Michael Gehler auch die österreichische Südtirolpolitik. Habe das Pariser Abkommen zunächst keinen effektiven Schutz für die Südtiroler gebracht, sei es gemeinsam mit den Südtirolern, gelungen, die Brennergrenze durchlässiger zu machen, den
ethnischen Bestand der deutschsprachigen Volksgruppe zu sichern
und soviel Autonomie wie möglich zu erwirken. Heute sei Südtirol eine der prosperierendsten Regionen Europas.

Die Frage, ob die österreichische Außenpolitik im 21. Jahrhundert in der EU-Außenpolitik aufgehen und überflüssig werde, beantwortet Michael Gehlers in einem abschließenden Ausblick wie folgt: Da es in kritischen Punkten - Nahostpolitik, Verhältnis zu den USA, Gewaltanwendung in der internationalen Politik - keine gemeinsame EU-Außenpolitik gebe, werde nationale Außenpolitik
auch in der EU weiterhin ihren Platz haben. Und was Österreich betrifft, dürfe man nicht vergessen, dass die immerwährende Neutralität - wenn auch erodiert - im Verfassungsrang weiter besteht.

Michael Gehlers "Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten Besatzung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts" ist 2005 im StudienVerlag (Innsbruck, Wien, Bozen) erschienen.
Das Werk umfasst 1.292 Seiten, hat 60 Illustrationen und
Graphiken. Der wissenschaftliche Apparat von 248 Seiten enthält auch eine sorgfältig kommentierte Quellendokumentation. (Schluss)

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