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Das vorzeitige Ende der Wende

"Presse"-Leitartikel von Michael Fleischhacker

Wien (OTS) - Die Deutschen bekommen Angst vor der eigenen Courage und wünschen sich eine große Koalition.

"Darauf", schrieb Nikolaus Blome am Freitag in der Welt, "können wohl nur wir Deutsche kommen: schwanger sein zu wollen, aber bitte nur ein bisschen." Stimmt nicht: Wir Österreicher halten, was die Sehnsucht nach begrenzten Schwangerschaften angeht, locker mit. Gerade wenn es um das Thema geht, das die Schlussphase des deutschen Bundestagswahlkampfs dominiert: die Sehnsucht nach einer großen Koalition.
Die "Wendestimmung", die sich in Deutschland über die zweite rot-grüne Legislaturperiode hinweg aufgebaut und in Schröders "Neuwahl-Coup" entladen hatte, scheint dahin: Schwarz-Gelb, sagen die jüngsten Umfragen, wird es nicht auf die erforderliche Mehrheit bringen. Rechnerisch zeichnet sich eine Mehrheit links der Mitte ab, die am Ende sogar zu einer Fortsetzung von Rot-Grün als Minderheitskabinett mit Duldung der Marx-Brothers-Fraktion von Gregor Gysi und Oscar Lafontaine führen könnte. Weil das aber der Mehrheit der Deutschen doch ein wenig unheimlich wäre, verdichtet sich die Stimmung hin in Richtung große Koalition.
Die Deutschen überkommt offensichtlich im letzten Moment die Angst vor der eigenen Courage. Sie berauben sich damit einer Chance, die sie vermutlich so schnell nicht wieder bekommen werden: eine substanzielle politische Richtungsänderung. Angela Merkel hat Recht, Deutschland braucht die Wende. Von der Neugestaltung des Steuersystems - und zwar möglichst in der von Paul Kirchhof vorgeschlagenen Art - über liberale Arbeitsmarktreformen bis zur Neugestaltung des Gesundheitssystems: Was Deutschland braucht, kann nur eine Regierung leisten, die bereit und in der Lage ist, ihr Programm möglichst unverfälscht und radikal umzusetzen.

Der Glaube daran, dass eine große Koalition wegen ihrer "breiten Basis" die besseren Voraussetzungen für nachhaltige Reformen hätte -eine Leerformel, die auch in Österreich oft zu hören ist - scheint gleichwohl unausrottbar zu sein. Es bleibt rätselhaft, wie denkende Gemüter zu der Annahme kommen können, dass das Zusammenzählen von Unterstützern unterschiedlicher Konzepte automatisch zu einem gemeinsamen Verständnis des Notwendigen führen soll.
Über die Gründe für das vorzeitige Ende der Wende wird noch viel gestritten werden, vor allem bei den Christdemokraten, die drauf und dran sind, zum zweiten Mal hintereinander den von Rot-Grün aufgelegten Elfmeter zu verschießen. Eines ist aber jetzt schon klar:
Den entscheidenden Fehler hat die Opposition rund um die Nominierung von Paul Kirchhof als Schattenfinanzminister begangen. Man musste kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass der strenge Herr Professor aus dem Bundesverfassungsgericht den braven deutschen Michel verschrecken würde. Wenn man ihn also dennoch in das Zentrum der Wahlauseinandersetzung stellte, so konnte das nur unter einer Voraussetzung gut gehen: Dass von Angela Merkel abwärts jeder, der in der CDU/CSU etwas zu sagen hat, seine Energien darauf verwendet, den Bürgern zu erklären, dass die Ängste vor einem neuen Steuersystem unbegründet sind, dass Kirchhofs Pläne keineswegs die Reichen belohnen und die Armen bestrafen, wie der nicht gerade erz-schwarze Spiegel vorgerechnet hat. Stattdessen gefielen sich die CDU-Ministerpräsidenten darin, hinter vorgehaltener Hand und öffentlich darauf hinzuweisen, dass Kirchhofs Modell im wirklichen politischen Leben ohnehin nicht realisierbar sein würde.

Auch wenn die schwarz-gelbe Koalition nach dem kommenden Wochenende eine Mehrheit im Bundestag zustande bringt: Der wichtigste Koalitionspartner, nämlich eine ausreichende Zahl veränderungsbereiter Bürger, hat sich bereits verabschiedet. Eine knappe Parlamentsmehrheit in einer Stimmung, wie sie derzeit in Deutschland herrscht, ist nicht eben eine grandiose Ausgangslage für tief greifende Reformen. Zu viele Skeptiker in denen eigenen Reihen der Christdemokraten würden sich - auch mit Blick auf kommende Landtagswahlen - der im Wahlkampf nur zeitweilig unterdrückten Versuchung hingeben, Opposition in der Regierung zu spielen.
Wenn am Ende dieses Wahlkampfs eine große Koalition stehen sollte, wird sich die "Wende" darauf beschränken, dass Gerhard Schröder nicht mehr Kanzler ist. Das Thema Reformen in Deutschland kann man dann aber abhaken: Warum sollte die SPD, die "ihren" Kanzler in Pension geschickt hat, nun ausgerechnet "Kohls Mädchen" Gefolgschaft leisten?

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