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"Kleine Zeitung" Kommentar: "Der Herzensbrecher hat Europa auf dem falschen Fuß erwischt" (Von Michael Jungwirth)

Ausgabe vom 25.06.2005

Graz (OTS) - Da sind die Briten wohl eine Klasse für sich. Vor ein paar Tagen noch war Tony Blair der Buhmann Europas. Mit seinem Veto gegen einen Finanzkompromiss hatte er die EU noch tiefer in den Orkus gestürzt.

Und was macht Blair jetzt? Statt nun den Beleidigten abzugeben und sich in den europapolitischen Schmollwinkel zurückzuziehen, begibt er sich aus freien Stücken in die Höhle des Löwen, ins EU-Parlament, ins Bollwerk der Europa-Begeisterten. Hut ab, Mister Blair.

Das hatte Jacques Chirac nach den Atomversuchen 1995 auch so gemacht, die Abgeordneten hatten dem Franzosen aber damals die Hölle heiß gemacht. Statt mit dem Kopf durch die Wand zu rennen, trumpfte Blair am Donnerstag als politischer Herzensbrecher auf. Der erwartete Tumult blieb aus, die Stimmung kippte, aber es war auch nicht so, dass ihm die Abgeordneten am Ende zu Füßen lagen.

Blair beließ es nicht dabei, sich mit messianischer Rhetorik wieder ins Spiel zu bringen. Wenige Tage vor Beginn der britischen EU-Präsidentschaft stellte er in Europa den Führungsanspruch.

Die EU erwischte er dabei auf dem falschen Fuß. Wirtschaftlich sind Deutschland und Frankreich, das "alte Europa", ziemlich parterre. Das ehrgeizige Brüsseler Vorhaben, die EU bis 2010 an die Weltspitze zu führen, erweist sich als fulminanter Rohrkrepierer. Und das EU-Budget trägt den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in keiner Weise Rechnung. Großbritannien steht hingegen nicht so schlecht da, die Auswüchse von Thatchers Turbo-Kapitalismus gehören der Vergangenheit an.

Doch darf man sich von Blairs blendender Rede nicht blenden lassen. In den letzten Jahren hatte Blair nicht als Europäer, sondern als beinharter Anwalt nationaler britischer Interessen aufgegeigt. Hat Blair die Europäer nicht wieder einmal um den Finger gewickelt?

Umgekehrt braucht Europa einen Neustart und Blair hat den Partnern die Hand gereicht. In dem Kontext muss auch Klartext geredet werden. Man kann nicht mit dem Slogan "Forschung statt Kühe" durch die Lande ziehen, weniger Geld in Brüssel einzahlen wollen, sich mit den Rübenbauern solidarisieren und das Aussterben des ländlichen Raums beklagen. Das passt vorn und hinten nicht zusammen und ist unehrlich.

Man kann aber auch nicht jene, die die heiligen Kühe der EU in Frage stellen, als Anti-Europäer brandmarken. Am britischen Wesen soll Europa nicht genesen, aber das gilt auch für Deutsche und Franzosen.****

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