Anarchie auf österreichisch
Von Ernst Sittinger
Wien (OTS) - In der Frage der zweisprachigen Ortstafeln in
Kärnten, die vor Jahresfrist noch für hitzige Debatten sorgte, herrscht seit gestern so etwas wie gepflegte Anarchie: Die vom Verfassungsgerichtshof (VfGH) aufgehobenen Gesetzesstellen wurden nicht ersetzt, die Aufstellung der Tafeln ist daher nicht durch Gesetz geregelt. Sobald jemand klagt, muß der VfGH auf Basis des Staatsvertrags von 1955 entscheiden und damit de facto Gesetzgeber spielen.
Welche Rolle der VfGH unter seinem neuen Präsidenten Karl Korinek sonst noch spielen wird, hängt wesentlich von der Regierungsbildung ab. Denn das Verhältnis zwischen Verfassung und Politik ist in jeder Konstellation sensibel. Variante A haben wir in den letzten drei Jahren erlebt: Die Regierung hat keine Zweidrittelmehrheit, die Opposition klagt jede Reform, die ihr nicht paßt, als angeblich verfassungswidrig ein. In diesem Fall muß das Höchstgericht aufpassen, nicht zum Spielball des Parteienstreits zu werden. Dies ist nahezu unmöglich: Als der VfGH kürzlich die Unfallrentensteuer aufhob, brach sofort das Jubelgeheul der Opposition los. Dabei hat das Höchstgericht die Maßnahme sachlich bestätigt - aufgehoben wurde die Steuer nur wegen des Fehlens einer Übergangsregelung.
Variante B könnte in Zukunft wieder drohen: Eine große Koalition, die im Nationalrat über die Zweidrittelmehrheit verfügt, macht den VfGH zahnlos, indem sie politisch unerwünschte Erkenntnisse durch Verfassungsbestimmungen umgeht. Dies ist vor allem in den Jahren 1986 bis 1994 reichlich geschehen. Ergebnis dieser Entwicklung ist eine völlig zersplitterte Verfassung, die keineswegs nur den Grundaufbau des Staates regelt, sondern sich nach dem politischen Opportunitäts-oder Zufallsprinzip in unwichtigen Einzelmaterien verliert. Die Regelung der Taxikonzessionen per Verfassung ist legendär. Derzeit überlegen einige Künstler, die Abschaffung der ORF-Sendung "Kunst-Stücke" vor dem Höchstgericht zu bekämpfen - das wäre dann der europaweit einzigartige Fall, daß Verfassungsrichter über das Fernsehprogramm befinden.
Die große Koalition hätte theoretisch einen Vorteil: Sie könnte den Verfassungs-Dschungel roden. Denn das, was mit Zweidrittelmehrheit angerichtet wurde, kann nur mit dieser Mehrheit wieder beseitigt werden. Wie hilflos selbst ehrgeizige Versuche einer Verwaltungsreform sind, wenn man dabei die Verfassung nicht anrühren darf, hat die schwarz-blaue Regierung zuletzt bewiesen. Um eine "Staatsreform" durchzuführen, die diesen Namen verdient, ist eine umfassende Flurbereinigung in der Verfassung bis hin zu einer völligen Neukodifikation erforderlich.
Die Frage ist freilich, warum man einer ÖVP-SPÖ-Regierung jetzt plötzlich große Reformen zutrauen soll. Denn neben dem Können muß auch das Wollen vorhanden sein. Die Verfassungsmehrheit hätten die beiden Parteien schon vor zehn Jahren gehabt. Damals wurde eine Staatsreform entworfen, diese dann aber im Interessengeflecht der Großparteien meisterhaft vergeigt.
Wenn jetzt wieder viele schlaue Denker nach dem "großen Wurf" rufen, muß man zuerst das eigentliche Übel beseitigen: die Mentalität des "Drüberfahrens" mit Regierungsmacht und des Totalverweigerns in der Opposition. Eine Staatsreform müßte im Nationalrat von allen Parteien offen erarbeitet und gemeinsam getragen werden. Dies wäre freilich ein Novum: Bisher herrschte eher die Überzeugung vor, man könne sich Diskussionen im Nationalrat sparen, weil man sowieso keine Mehrheit zustandebringt (kleine Koalition) oder schon im Besitz der Zweidrittelmehrheit ist (große Koalition). So scheiterte jede Reform zwischen den Mühlsteinen des Kleinmuts und der Selbstherrlichkeit -ein perfektes Zustandsbild der österreichischen Seele.
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