"Die Presse" Kommentar: "Mit Volldampf zur Erweiterung" (von Andreas Schwarz)
Ausgabe vom 2.1.2001
Wien (OTS) "Der König ist tot, es lebe der König." So wurde einst in Frankreich
vom Schloßbalkon aus der Monarchenwechsel verkündet und zugleich die erhoffte Kontinuität signalisiert. Und so könnte man auch den Wechsel der Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union ausrufen. Mit dem Unterschied, daß sich Europa zum Millenniumswechsel nicht nur Kontinuität wünscht, sondern in Schweden einen besseren Vorsitzenden, als ihn Frankreichs Monarch der Gegenwart im letzten Halbjahr geboten hat.
Aber seien wir nicht ungerecht: Jacques Chirac hatte es nicht leicht. Die Strukturreform der EU, die ja nicht bloß das proklamierte Fit-Machen für die Erweiterung war, sondern das Koordinieren widersprüchlicher Mitglieder-Interessen, diese Reform also als unparteiischer Vorsitzender über die Bühne zu bringen und dennoch die wichtigsten Interessen, nämlich die eigenen, durchzusetzen, das hätte selbst einem charismatischeren Vorsitzenden als Chirac in Schwierigkeiten eingebracht.
Schwamm drüber. Die EU wurde in Nizza mit Ächzen und Stöhnen (und schweren Einschränkungen) fit gemacht fürs neue Jahrtausend und für das Jahrhundertwerk der Erweiterung - die übrigens, so hatten es europäische Politiker in den Tagen des Mauerfalls prophezeit, schon voriges Jahr hätte beginnen sollen.
Aber die Realität hat mit der Euphorie nicht Schritt gehalten, der Druck, die osteuropäischen Beitrittswerber aus sicherheits- und stabilitätspolitischen Gründen an Europa zu binden, ist kleiner geworden, dafür ist die diffuse Angst vor einer unkontrollierten Völkerwanderung gewachsen (und von Politikern gerne aufgegriffen, mitunter auch geschürt worden). Das Nennen willkürlicher Beitrittsdaten irgendwann im ersten Jahrzehnt war jahrelang wohlfeil, nur nicht so bald, bitte, keine Eile!
Jetzt hat Schweden den EU-Vorsitz inne, und die oft euroskeptischen Skandinavier gelten als extrem erweiterungsfreundlich. Gleichzeitig hat in der Union ein Umdenken eingesetzt: 2002 will man erweiterungsfähig sein, 2004 die ersten Neulinge willkommen heißen (soferne sie selbst fit dafür sind). Diese grundsätzliche Entscheidung und das von Stockholm angekündigte Tempo und Gewicht, das man der Erweiterungsfrage geben will, läßt klar voraussagen: Das neue Jahr wird auf europäischer Ebene neben der Vorbereitung auf den Euro vor allem im Zeichen der Erweiterung stehen. Nicht weil sie schon stattfindet, sondern weil noch so viel zu tun ist.
Die Europäische Union ist sich noch immer nicht einig, in welchen Etappen sie erweitern soll - in zwei großen Wellen, die drei neuen Nato-Mitglieder zuerst, um den Konfliktpunkt Zypern auszuklammern, oder müssen die anderen, wenn Polen noch nicht so weit ist, auch warten?
Die EU ist sich auch bei allfälligen Übergangsfristen nicht einig. Sieben Jahre bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit, wie sie Deutschlands Kanzler Schröder ventiliert hat und wie sie von Österreich ebenfalls gutgeheißen werden, entsprechen nicht dem Common sense in der Union. Das liegt auch daran, daß die Debatte noch immer nicht ausreichend geführt wird, ob und wie sich Zuwanderung mit Arbeitslosigkeit, gleichzeitigem Arbeitskräftemangel und bedrohlicher demographischer Entwicklung verträgt.
Die wichtigste Hausaufgabe der EU-Politiker, wenn sie die Erweiterung nun wirklich vorantreiben wollen, ist aber, den Bürgern endlich die Vorteile einer vergrößerten Union zu vermitteln (ohne die Nachteile zu beschönigen). Das ist bisher allenfalls in Sonntagsreden, aber ohne Substanz erfolgt. Und die wird es - die Idee einer Abstimmung über die Erweiterung geistert ja nicht nur in Österreich herum - noch brauchen, wenn das größere Europa mit Volldampf statt mit heißer Luft angesteuert werden soll.
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